Veröfentlicht in Die Tagespost vom 07.07.11, hier mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.

Das Embryonenschutzgesetz wird vom Bundesgerichtshof fragwürdig ausgelegt

Wer schaut eigentlich einmal dem Bundesgerichtshof auf die Finger, wenn es um die Präimplantationsdiagnostik (PID) geht? Denn mit einem Urteil gestern vor einem Jahr hat er den Deutschen Bundestag gezwungen, heute ein Gesetz über die PID zu lesen und zu verabschieden. Und dieses Urteil war alles andere als sattelfest und stringent gewesen. Eigentlich war es ein Skandal.

Von Rainer Beckmann

Viele Jahre lang war in Politik und Rechtswissenschaft die Auffassung verbreitet, dass die Strafvorschriften des Embryonenschutzgesetzes einer Anwendung der Präimplantationsdiagnostik (PID) entgegenstehen. Erst mit dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 6. Juli 2010 wendete sich das Blatt. Es war letztlich der Anstoss für die aktuelle Debatte um Zulassung oder Verbot der PID heute im Bundestag. Daher lohnt sich eine nähere Analyse dieser bislang wenig kritisierten Entscheidung. Welche Erkenntnisse können rechtspolitisch aus der Entscheidung des Bundesgerichtshofes gewonnen werden?

Von Bedeutung ist zunächst, inwieweit der Bundesgerichtshof die grundsätzliche Zielrichtung des Embryonenschutzgesetzes mit Blick auf die PID berücksichtigt hat. Ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs zum Embryonenschutzgesetz verbietet die Vorschrift des Paragrafen 1, Absatz 1, Nummer 2 im Embryonenschutzgesetz „ausnahmslos, menschliche Eizellen zu einem anderen Zweck als der Herbeiführung einer Schwangerschaft … künstlich zu befruchten“ (zitiert aus der Bundestags-Drucksache 11/5460, Seite 8). In den Gesetzesmaterialien – einschliesslich der seinerzeitigen Bundestagsdebatten – ist insbesondere davon die Rede, dass eine verbrauchende Embryonenforschung verhindert werden soll. Dies war aber nicht das einzige Motiv. Gegen welche Art von anderen Zwecken sich diese zentrale Strafvorschrift wendet, kommt am Ende der Einzelbegründung des oben erwähnten Paragrafen zum Ausdruck. Dort heisst es – nachdem „Befruchtungen ohne Transferabsicht“, „wissenschaftliche“ oder „sonstige Zwecke“ genannt wurden – zusammenfassend: „Auch in den letztgenannten Fällen würde menschliches Leben erzeugt werden, um es alsbald wieder zu vernichten.“ Es war somit die Auffassung des Gesetzgebers, dass menschliche Embryonen nicht erzeugt werden sollen, um sie anschliessend „alsbald wieder zu vernichten“. Genau dies ist aber ein vorhersehbarer und einkalkulierter Effekt der PID, weil die diagnostisch auffälligen Embryonen keine Chance zur Weiterentwicklung erhalten sollen.

Der Bundesgerichtshof hat diesen Aspekt der Gesetzesbegründung in seinem Urteil nicht aufgegriffen. Er versteift sich vielmehr darauf, dass das Handeln des Arztes jeweils von dem Willen getragen war, „bei den von ihm behandelten Patientinnen (…) eine Schwangerschaft herbeizuführen“. Diese Zielrichtung schliesse den Tatbestand des zitierten Paragrafen 1, Absatz 1, Nummer 2 des Embryonenschutzgesetzes aus. Dem Bundesgerichtshof ist zuzugeben, dass mit einem PID-Verfahren, bei dem mehrere Embryonen erzeugt werden, tatsächlich die Geburt eines (gesunden) Kindes angestrebt wird.

Übersehen wird damit allerdings, dass der Gesetzeswortlaut eine individuelle, auf den einzelnen Embryo bezogene Betrachtungsweise erfordert. Tathandlung nach oben zitiertem Paragrafen ist die Befruchtung einer einzelnen Eizelle. Zum jeweiligen Zeitpunkt der Befruchtung steht aber nicht fest, ob genau diese befruchtete Eizelle zur Herbeiführung einer Schwangerschaft verwenden werden soll. Würde man den Arzt fragen, ob er die Absicht habe, genau diese befruchtete Eizelle später in die Gebärmutter der Patientin zu übertragen, müsste er ehrlicherweise antworten: „Das weiss ich nicht, es kommt darauf an, was die genetische Diagnostik ergibt.“

Damit fehlt es aber an der tatbestandsausschliessenden Absicht „Herbeiführung einer Schwangerschaft“ im Zeitpunkt der Tathandlung gemäss des Embryonenschutzgesetzes. Die PID ist daher – entgegen der Meinung des Bundesgerichtshofs – durchaus als „missbräuchliche Anwendung von Fortpflanzungstechniken“ im Sinne von Paragraf 1 des Embryonenschutzgesetzes zu qualifizieren.

In seinem Urteil vom 6. Juli 2010 hat der Bundesgerichtshof auch gemeint, dass in der Entnahme von Zellen aus dem Embryo für die Diagnostik keine missbräuchliche Verwendung von Embryonen im Sinne des eben verhandelten Paragrafen 1 des Embryonenschutzgesetzes liege. Nach dieser Norm macht sich strafbar, wer einen extrakorporal erzeugten menschlichen Embryo „für einen nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck (…) verwendet“.

Dass die Entnahme von Zellen aus einem Embryo eine „Verwendung“ des Embryos darstellt, kann aber keinem ernsthaften Zweifel unterliegen. Ziel dieses Vorgehens ist die Analyse des genetischen Materials, das in den entnommenen Zellen enthalten ist. Offensichtlich wird hier der Embryo zweckgerichtet dazu verwendet, seine genetische Ausstattung festzustellen. Ob ihm diese Prozedur schadet oder nicht, ist tatbestandlich irrelevant. Von einem „seiner Erhaltung dienenden Zweck“ kann jedenfalls keine Rede sein. Die Biopsie dient allein den Eltern des Embryos, die ihren Wunsch nach einem gesunden Kind durch die Selektion genetisch „auffälliger“ Embryonen durchsetzen wollen. Völlig zu Recht kommt der einzige Kommentar zum Embryonenschutzgesetz daher zu dem Ergebnis: „De lege lata statuiert § 2 Abs. 1 (…) ein umfassendes Verbot der PID“. („De lege lata“ heisst übersetzt „nach geltendem Recht“.)

Der Bundesgerichtshof scheint von seiner Interpretation der genannten Strafvorschriften selbst nicht restlos überzeugt zu sein, denn er ergänzt seine Argumentation jeweils mit der Überlegung, dass der Gesetzgeber in Paragraf 3, Satz 2 des Embryonenschutzgesetzes eine „Wertentscheidung“ getroffen habe, die eine Selektion genetisch belasteter Embryonen zulässig erscheinen lasse. Dieser Paragraf erlaubt die Befruchtung mit einer Samenzelle, die nach dem in ihr enthaltenen Geschlechtschromosom ausgewählt worden ist, wenn dieses Vorgehen dazu dient, „das Kind vor der Erkrankung an einer Muskeldystrophie vom Typ Duchenne oder einer ähnlich schwerwiegenden geschlechtsgebundenen Erbkrankheit zu bewahren (…)“. Nach Ansicht des Bundesgerichtshofes hat der Gesetzgeber hiermit „der aus dem Risiko einer geschlechtsgebundenen Erbkrankheit des Kindes resultierenden Konfliktlage der Eltern Rechnung getragen“. Bei der PID bestehe eine „gleichgelagerte Konfliktsituation“, sodass auch dieses Verfahren nicht als verboten angesehen werden könne.

Diese unbedarfte Gleichsetzung von „Spermienselektion“ und „Embryoselektion“ kann nur verwundern. Sie lässt den unterschiedlichen (grund-)rechtlichen Status von Spermien und Embryonen völlig unberücksichtigt. Ohne den geringsten tatsächlichen Anhaltspunkt wird dem Gesetzgeber unterstellt, er wolle mit dieser Vorschrift zum Ausdruck bringen, dass es eine grundsätzliche Berechtigung gebe, die Belastungen eines Lebens mit einem behinderten Kind nicht nur durch die Verhinderung der Zeugung solchen Nachwuchses, sondern auch durch seine nach der Zeugung erfolgende Beseitigung zu „vermeiden“

Davon steht kein Wort im Gesetz oder der Gesetzesbegründung. Dort geht es allein um die Verhinderung der Entstehung von genetisch belasteten Embryonen und nicht um ihre Tötung, nachdem sie bereits entstanden sind. Der Bundesgerichtshof stellt damit Inhalt und Zielrichtung von Paragraf 3, Satz 2 des Embryonenschutzgesetzes geradezu auf den Kopf. Die angebliche „Wertentscheidung“ des Gesetzgebers zugunsten der Selektion von Embryonen ist eine reine Erfindung des Bundesgerichtshofes. Unabhängig davon wäre eine solche „Wertentscheidung“ auch nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Jeder Selektion liegt eine (Ab-)Qualifizierung zugrunde, die mit der grundlegenden Gleichberechtigung, die der Verfassungssatz von der unantastbaren Würde des Menschen garantieren soll, nicht vereinbar ist. Geborene Menschen mit Behinderung können sich diesbezüglich in unserer Gesellschaft relativ sicher fühlen. Denn als Reaktion auf die Vernichtungsaktionen im Nationalsozialismus unterliegt in Deutschland zumindest jede offene Behindertenfeindlichkeit der Ächtung. Das ist aber kein Naturgesetz und kann sich ändern. Jede Form der Abwertung und Selektion menschlichen Lebens trägt dazu bei, die Akzeptanz von Menschen mit Behinderung generell zu beeinträchtigen. Deshalb ist die PID auch gesellschaftspolitisch problematisch. In einer Zulassung der PID ist eben auch die „logische“ Ausdehnung auf die Postnatalselektion mit angelegt.

Genau hierin liegt die fatale Wirkung, die von dem Bundesgerichtshof-Urteil zur PID ausgeht. Während nach dem Gesetzeswortlaut die Auswahl von Spermien als Ausnahme von dem generellen Verbot der Geschlechtsselektion in bestimmten Fällen erlaubt wurde, dehnt der BGH die Selektion auf Embryonen aus und stilisiert dies sogar zu einer „Wertentscheidung des Gesetzgebers“.

Hinzu kommt die verbreitete, aber vom Gesetz nicht gedeckte Interpretation von Paragraf 218 a, Absatz 2 des Strafgesetzbuches als „Zulassung der Schwangerschaft auf Probe“, zu der der Bundesgerichtshof ebenfalls in seiner Entscheidung eine Parallele zieht. Wenn damit die Selektion von Embryonen letztlich vom Frühstadium der Entwicklung bis hin zum Ende der Schwangerschaft „zulässig“ sein soll, mit welcher Berechtigung kann man sie dann noch zu späteren Zeitpunkten – etwa unmittelbar nach der Geburt – verbieten? Eine Zulassung der PID beträfe nicht nur den Kreis derjenigen, die ein vermeintliches „Recht auf ein gesundes Kind“ durchsetzen wollen, sondern hätte ersichtlich auch Auswirkungen auf die Einstellung der gesamten Gesellschaft. Sie wäre ein weiterer Schritt auf dem Weg in eine „schöne neue Welt“, in der Selektion erwünscht ist und erbkrankes beziehungsweise „nicht zumutbares“ menschliches Leben beseitigt werden darf. Diese „Logik“ ist im PID-Urteil des Bundesgerichtshofes angelegt.

Der Deutsche Bundestag sollte ihr nicht folgen.