Das Thema fremdnützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen (z.B. Neugeborenen, Kindern, Menschen mit geistiger Beeinträchtigung, Altersdementen, Komapatienten) sorgt schon seit Ende der 1990er Jahre immer wieder für Zündstoff.

1994: Bioethik-Konvention des Europarates

Hintergrund ist die im April 1994 nach einer „demokratischen Indiskretion“ einer handvoll engagierter kritischer Bürger veröffentlichten „Bioethik-Konvention“ des Europarates. Diese Konvention war hinter verschlossenen Türen in Gremien des Europarat erarbeiteten und bis dato geheim gehalten worden.

Dieses „Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin“, oder auch bekannt unter „Biomedizin-Konvention“ wurde am 4. April 1997 verabschiedet und trat nach der Ratifizierung von fünf Staaten am 1. Dezember 1999 in Kraft. Das Übereinkommen versteht sich als Fortschreibung der Europäischen Menschenrechtskonvention und soll für die ihr beitretenden Staaten sogenannte „Mindeststandards“ in verschiedenen Bereichen medizinischer Therapie und biomedizinischer Forschung festlegen.

Hauptkritikpunkt daran war und ist die Zulassung fremdnütziger Forschung an Nichteinwilligungsfähigen bei völlig wagem „minimalen Risiko“ und „minimaler Belastung“ für die Probanden. „Fremdnützig“ bedeutet dabei, dass die Forschung den Patienten nicht selbst zugute kommen muss, sondern es soll genügen, wenn ein sogenannter Gruppennutzen für andere Patienten gegeben ist.

Dieser Passus sorgte damals nicht nur in Deutschland für massiven Protest bei Kirchen, Behindertenverbänden und anderen bioethik-kritischen Gruppen und Einzelpersonen. Auf Grund des Protestes trat die Bundesrepublik Deutschland dem Übereinkommen bis heute nicht bei, obgleich immer wieder versucht wurde einen neuen Vorstoß zu wagen.

Ausführliche Hintergrundinformationen liefert dazu die InteressenGemeinschaft Kritische Bioethik mit einem einzigartigen Informationsportal zur Biomedizin-Konvention mit allen Texten, zahlreichen Stellungnahmen und Nachzeichnungen der Debatte von damals bis heute.

2007: Fremdnützige Forschung an Kindern

Ende Januar 2007 trat eine EU-Verordnung über Kinderarzneimittel in Kraft. Diese schreibt für jedes neu zuzulassende Arzneimittel ein pädiatrisches Prüfkonzept vor, in dem das geplante Entwicklungsprogramm für eine Anwendung an Kindern dargelegt wird. Dies soll zu einer besseren Versorgungssituation mit Kinderarzneimitteln führen. Um dieses Defizit zu beseitigen, wären mehr klinische Studien mit Kindern erforderlich. Zugleich bestehen aber nach wie vor Vorbehalte, Kinder, die selbst keine rechtswirksame Einwilligung in ihre Einbeziehung in die Forschung erteilen können, den Risiken von Arzneimittelstudien auszusetzen. Heikel daran ist, dass die Forschung mit Kindern sowohl eine besondere ethische Brisanz hat, sowohl für die betroffenen Kinder als auch für ihre Eltern und Ärzte, zumal wenn es um Forschung zum Nutzen Dritter geht.

Der Deutsche Ethikrat hatte dazu im Septemebr 2011 als „Forum Bioethik“ unter dem Titel „Arzneimittelforschung mit Kindern: Ethisch geboten oder bedenklich?“ eine Expertenanhörung verantaltet. Gegenstand der auch für das Publikum geöffneten Diskussion waren Fragen der Nutzen-Risiko-Abwägung, des Umgangs mit unterschiedlichen Meinungsäußerungen von Kindern und ihren Eltern und des Verhältnisses von eigennütziger und gruppennütziger Forschung. Außerdem wurde die Frage aufgeworfen, inwieweit die Betroffenen und ihre gesetzlichen Vertreter angemessenen und verständlich aufgeklärt werden.

Mehr dazu auf der Webseite des Deutschen Ethikrates zur Veranstaltung.

2012: EU-Neuregelung von Arzneimittel-Tests am Menschen

Eine geplante EU-Neuregelung von Arzneimittel-Tests am Menschen sorgt seit Ende 2012 für erneute Diskussionen. Konkret geht es um eine Lockerung international anerkannter Standards für die klinische Erforschung von Arzneimitteln am Menschen zum Nutzen der Pharmafirmen und zum möglichen Nachteil der Probanden, insbesondere Nichteinwilligungsfähige wie z.B. Kinder. Hiergegen hatte u.a. bereits die Bundesärztekammer (BÄK), die Ärztevereinigung Marburger Bund und der Arbeitskreis Medizinischer Ethik-Kommissionen in Deutschland heftig protestiert. Details würden hier den Rahmen sprengen. Hierzu gibt es ebenfalls ein umfangreiches Themenspecial der IG Kritische Bioethik Deutschland zum EU-Verordnungsentwurf über klinische Prüfungen.

2013: WMA Deklaration von Helsinki – Ethische Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen

Bei seiner Generalversammlung im Oktober 2013 in Fortaleza (Brasilien) hat der Weltärztebund (WMA) eine revidierte Fassung der Deklaration von Helsinki über Ethische Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen verabschiedet. Darin stellt sie ebenfalls Regeln zur fremdnützigen Forschung an Nichteinwilligungsfähigen Probanden auf, zu finden unter Punkt 28 – 30 der Deutschen Fassung. Die Bundesärztekammer bietet die Deutsche Fassung der Deklaration von Helsinki als PDF-Download an.

Siehe ergänzend dazu:

Deklaration von Helsinki: Weltweite Bedeutung
Parsa-Parsi, Ramin; Wiesing, Urban
Kurz vor ihrem 50. Geburtstag präsentiert sich das wohl wichtigste Dokument des Weltärztebundes in einer überarbeiteten Version.
Deutsches Ärzteblatt 2013; 110(50): A-2414 / B-2128 / C-2050 13.12.13

2016: Deutscher Bundestag verabschiedet Regelung für gruppennützige Forschung an Demenzkranken

Im November 2016 verabschiedete der Deutscher Bundestag ungeachtetet aller Proteste in Dritter Lesung eine Regelung für gruppennützige Forschung an Demenzkranken. Demzufolge sollen sogenannte gruppennützige Studien an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen (zum Beispiel Demenzkranken), die den Teilnehmern selbst keine Vorteile bringen, künftig unter bestimmten Bedingungen erlaubt sein. Voraussetzung ist eine Vorabeinwilligung der Probanden und eine verpflichtende ärztliche Beratung dazu.

Am 16.12.16 hat schließlich der Bundesrat seine Zustimmung zum Gesetz erteilt. Damit sind sogenannte gruppennützige Studien an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen – also zum Beispiel Demenzkranken – künftig unter bestimmten Bedingungen erlaubt, auch wenn sie den Betroffenen selbst keine Vorteile bringen. Voraussetzung ist eine Vorabeinwilligung der späteren Probandinnen und Probanden sowie eine verpflichtende ärztliche Beratung im Vorfeld. Dies bedeutet nach Ansicht der Kritiker einen Paradigmenwechsel und birgt die Gefahr einer Ausweitung auf andere Patientengruppen wie Menschen mit geistiger Beinträchtigung.

Ausführliche Informationen zur Neuregelung der fremdnützigen Forschung an Nichteinwilligungsfähigen gibt es auf der Webseite der Christdemokraten für das Leben (CDL).

Ergänzende Informationen:

Hinweis: Die folgenden Inormationen spiegeln nicht zwangsläufig die Positionen der ÄfdL wieder sondern bieten einen Überblick über die Debatte und Probleme in der Diskussion.

Im Blickpunkt: Medizinische Forschung mit Minderjährigen
Informationen des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften DRZE
I. Medizinische Aspekte
II. Rechtliche Aspekte
III. Ethische Aspekte
IV. Module


Neues zum Thema fremdnützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen

29.09.18: Forschungsvorausverfügungen: Noch viele offene Fragen

Im Deutschen Bundestag wurde Ende 2016 ein Gesetz verabschiedet, das künftig die gruppennützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen in engen Grenzen erlaubt. Das neue, damals viel kritisierte Gesetz zur Verwendung von Forschungsvorausverfügungen finde unter Wissenschaftlern zwar prinzipiell Anklang, bei der praktischen Umsetzung herrsche jedoch noch Unklarheiten und ethische Bedenken. Ein Artikel im Deutschen Ärzteblatt 2018; 115(39): A-1696 / B-1430 / C-1416 vom 28.09.18 bietet Betrachtungen aus der Demenzforschung und zeigt Probleme auf.

Zum Ärzteblatt-Beitrag Forschungsvorausverfügungen: Noch viele offene Fragen


08.10.12: Attention – neuer Dammbruch?

Europäische Union„Einen Kniefall vor der Pharmaindustrie“ befürchtet Stefan Rehder (Die Tagespost vom 27.09.12) bei dem Entwurf der Europäischen Kommission, die derzeit geltenden Richtlinien des Europaparlaments für die „Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln“ gem. 2001/20/EG durch eine Verordnung zu ersetzen, die nach ihrer Verabschiedung durch das EU-Parlament rechtswirksam und in allen Teilen verbindlich ist, also nicht mehr der einzelstaatlichen Ausgestaltung offen steht. Begründet wird dieser Entwurf durch zu hohe Kosten der derzeit geltenden Richtlinien für die Pharmazeutische Industrie.

Von Seiten des Marburger Bundes, der Bundesärztekammer wie von Lebensrechtsgruppen kommt es zu präzisierter Kritik gegen die beabsichtigten Änderungen: Die Pflicht, ein geplantes Forschungsvorhaben von einer interdisziplinär besetzten Ethikkommission prüfen zu lassen, soll demnach entfallen; ferner sollen die Schutzbestimmungen bei Studien mit Kindern, Jugendlichen und nichteinwilligungsfähigen Personen gesenkt werden. Zudem soll die Nutzen-Risiko-Bewertung künftig nur noch von einem Mitgliedsstaat federführend übernommen werden. Nicht erwünschte Ergebnisse müssten lt. Entwurf nicht mehr veröffentlicht werden. Als „unerwünscht“ gelte dabei jedes nachteilige Vorkommnis, das einem Probanden durch das verabreichte Arzneimittel widerfährt, das nicht unbedingt mit dessen Behandlung in Zusammenhang steht. (Siehe dazu ein ausführliches Themenspecial zum Verordnungsentwurf bei der IG Kritische Bioethik Deutschland)

Fazit: Nicht mehr der Nutzen für die Probanden und Patienten steht dann im Vordergrund der klinischen Prüfung, sondern eindeutig die Industriepolitik. Auf einen solchen Bruch mit der ärztlichen Ethik reagieren ÄfdL mit entschiedenem Protest. (M. Overdick-Gulden)

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