05.07.10: Kommentar zum BGH-Urteil zur Sterbehilfe vom 25.6.2010

Siehe dazu: Abbruch lebenserhaltender Behandlung auf der Grundlage des Patientenwillens ist nicht strafbar (Pressemitteilung Bundesgerichtshof 25.06.10)

Kommentar von Dr. Maria Overdick-Gulden, 05.07.2010

Hat das Grundsatzurteil des BGH vom obigen Datum, das die Verurteilung des Medizinrechtlers W. Putz aufhob, tatsächlich eine Klärung der Patientenrechte am Lebensende herbeigeführt? Oder schafft es weitere Irritationen? Zur Faktenlage: im März 2006 verlangt die Tochter einer Wachkomapatientin die Beendigung der künstlichen Ernährung mit Verweis auf den „mutmaßlichen Willen“, den die Mutter vor ihrer Erkrankung geäußert habe. Die Pflegeeinrichtung verweigert sich. Die Tochter durchtrennt letztendlich auf Anraten von Herrn Putz Ende 2007 den Schlauch zur Magensonde, über welche die Komapatientin seit knapp dreieinhalb Jahren (!) ernährt worden war. Laut Deutschem Ärzteblatt (vom 2.7.2010) wurde die Wachkomatöse danach auf Anordnung eines Staatsanwalts schließlich in ein Krankenhaus gebracht, wo eine neue PEG-Sonde gelegt wurde; dort starb sie nach zwei Wochen eines natürlichen Todes. W. Putz wurde in einem Urteil des Landgerichts Fulda wegen versuchten Totschlags verurteilt.

Hat der jetzige Freispruch des Medizinrechtlers wirklich der Patientenautonomie zur Anerkennung verholfen, wie öffentliche Äußerungen bekunden wollen? Nachgefragt: hat die über fast dreieinhalb Jahre von der Tochter immerhin akzeptierte Sondenernährung dann nicht als unerlaubter Körpereingriff zu gelten, der als solcher gar zu bestrafen wäre? Wie steht es um die Bedeutung des „mutmaßlichen Willens“, den man im Verlauf einer chronischen Krankheit irgendwann als Argument für das „Sterbenlassen“ eines Angehörigen bemüht?

Offensichtlich ist die Rechtslage für den nicht mehr Einwilligungsfähigen in unserem Land trotz gesetzlicher Regelungen noch immer unklar und damit ureigentlich „lebensgefährlich“! Nämlich dann, wenn ein „mutmaßlicher Wille“, dessen sich Angehörige im Nachhinein erinnern und den sie zu Protokoll geben, als juristisch zulässiger Ersatz für eine schriftliche Verfügung (nach § 1901 a Abs. 1 S. 1 BGB) dienen kann! Sind „Mutmaßungen“ über den Patientenwillen denn juristisch stichhaltige Argumente für „Lebensbeendung“, für „Sterbehilfe“? Das Tor zum Missbrauch (durch vielfältige Interessen der Angehörigen) ist hier doch weit offen: Sind sich nämlich der rechtliche Vertreter des Patienten und der behandelnde Arzt einig, kommt es zu keiner juristischen oder sonstigen Kontrolle mehr (§ 1904 Abs. 4 BGB). Ist eine solch offene Rechtslage bei der zunehmenden Überalterung unserer Gesellschaft gar erwünscht? So mag der Skeptiker fragen.

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