04.06.21: Kommentar: Ein Angriff auf das Lebensrecht

Die Akademien der Wissenschaften schlagen vor, menschliche Embryonen, die bei der Befruchtung im Reagenzglas nicht in die Gebärmutter eingesetzt werden, für die Forschung freizugeben. Dazu ein Kommentar von Prof. Paul Cullen

Im März 2019 hat die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina unter Federführung des Mannheimer Medizinrechtlers Jochen Taupitz die ausführliche Stellungnahme „Fortpflanzungsmedizin in Deutschland – für eine zeitgemäße Gesetzgebung“ vorgelegt. Anfang Mai 2021 folgt nun mit dem Bericht „Neubewertung des Schutzes von in-vitro-Embryonen in Deutschland“ gewissermaßen die Fortsetzung dieser Stellungnahme, diesmal unter Hinzuziehung der Union der (regionalen) Deutschen Akademien der Wissenschaften.1

Von der argumentativen Grundlage her, unterscheiden sich beide Papiere nur graduell, lediglich der Fokus ist ein anderer. Bei der ersten Stellungnahme ging es um ein, wie wir damals schrieben „unverhohlenes Plädoyer für die Freigabe des kompletten Spektrums der Reproduktionsmedizin für jedermann, … fast ohne Altersbegrenzung sowie auf Kosten der Versichertengemeinschaft und der Steuerzahler.“ Es sollte „das Embryonenschutzgesetz … in einer Weise entkernt werden, dass weder vom Begriff Embryo noch vom Begriff Schutz etwas übrigbleibt. der pränatalen Selektion Tür und Tor geöffnet werden. Leihmutterschaft und Eizellspende praktisch unbegrenzt freigegeben.“2

Im neuen Bericht wird abermals das Embryonenschutzgesetz aufs Korn genommen, aber diesmal um die Verwendung von sogenannten „überzähligen“ Embryonen für Forschung freizuschießen.

Welche Kriterien machen menschliches Leben aus?

Ein zentraler Punkt in beiden Dokumenten, in dem zweiten fast klarer zur Sprache gebracht als im ersten, ist der moralische Status des menschlichen Embryos in frühem und frühestem Stadion. Den Verfassern muss man zugutehalten, dass sie nicht versuchen, diese Frage zu umschiffen oder sprachliche Kunstgriffe anzuwenden. Sie gehen sie frontal an. „Die Statusfrage“, schreiben sie, sei „das Nadelöhr zu allen anderen ethischen Abwägungsfragen“.3 Auch geben sie zu, dass sich „die Maximalposition“ in Bezug auf das Lebensrecht des Embryos „[b]egründungslogisch … nicht zwingend widerlegen [lässt]“, ein Zustand, den sie als „anhaltende Pattsituation“ beschreiben.4

Dennoch tun sie ihr Bestes, diese Position – wohl unter Umgehung der „Begründungslogik“ – doch zu widerlegen. Hierfür setzt man sich mit den SKIP-Argumenten, und hier insbesondere mit dem Potentialitätsargument, detailliert auseinander.

Die vier SKIP-Kriterien sind: die Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens; die Kontinuität der menschlichen Entwicklung von der Befruchtung an ohne klare Zäsuren; die Identität des Embryos mit dem Fötus, des Fötus mit dem Kind, des Kindes mit dem Erwachsenen (man sagt, „als ich noch im Bauch meiner Mutter war“ und nicht „als das Wesen, aus dem ich später wurde, im Bauch meiner Mutter war“); die Tatsache, dass das Embryo vom ersten Augenblick an das volle Potential zur Entwicklung des neuen Menschen in sich trägt; von außen kommt nichts neues an Information mehr hinzu. Sie bilden die argumentative Grundlage des Lebensrechts. Oft wurden die SKIP-Kriterien kritisiert, doch nie wurden sie überzeugend widerlegt.

Menschliches Leben ist immer auch von äußeren Faktoren abhängig

So auch im neuen Bericht der Akademien der Wissenschaften: Die Frustration der Verfasser mit den Vertretern einer starken Lebensrechtsposition ist förmlich herauszuhören, wenn auch keine einzige Veröffentlichung oder Vertreter der Lebensrechtsseite im Dokument zitiert werden. Weil weitere Faktoren, etwa die Einnistung in der Gebärmutter notwendig sind, damit das Embryo sein Potential entfaltet, wird die „moralische Verpflichtungskraft“ des Entwicklungspotentials als „nicht überzeugendes ethisches Postulat“5 ohne weitere Begründung abgetan. Zusätzlich wird aufgeführt, dass einerseits dieses Potential bereits vor und nach der Zellkernverschmelzung durch „neuere molekularbiologische Techniken“ gestört werden kann, andererseits zumindest im Tierversuch Körperzellen durch biochemische Manipulation dazu veranlasst werden können, sich zu funktionsfähigen Embryonen zu entwickeln.

All dies ändert nichts an der Überzeugungskraft des Potentialitätsarguments. Dass die fortgesetzte Existenz eines Menschen in allen Phasen seiner Entwicklung von einer Vielzahl von äußeren Faktoren abhängig ist, ist eine Banalität. Neue Entwicklungen mit künstlichen Gebärmüttern zeigen dazu, dass die embryonale und später fötale Entwicklung über längere Zeiträume hinweg außerhalb extracorporal möglich ist. Es ist zwar möglich, die Entwicklung eines Embryos zu stören oder künstlich herbeizuführen, doch ändert dies nicht an der Potentialität dieses Embryos an sich. Aber selbst die Verfasser scheinen von den eigenen Argumenten nicht überzeugt zu sein. So argumentieren sie, dass die „schwächeren Schutzpositionen … verbreiteten Intuitionen“ deutlich besser entsprechen als die Position des „maximalen Embryonenschutzes.“6 Eine Intuition allein kann aber keine tragbare moralische Position begründen.

Der Lebensschutz der Embryonen ist bereits stark aufgeweicht

Dennoch weisen die Verfasser auf eine Tatsache hin, die tatsächlich ein Problem darstellt: die Inkonsistenz vieler der rechtlichen Positionen rund um das Lebensrecht. So führen sie neben der Zulassung von Medikamenten, die die Einnistung des Embryos in die Gebärmutter hemmen („Pille danach“) an, dass das Embryonenschutzgesetz bereits heute das Überleben des Embryos in vitro vollkommen von der Einwilligung der Frau zur Einsetzung abhängig macht und die Weitergabe „überzähliger“ Embryonen an adoptionswillige Dritte nicht fordert. Möchte die Frau diese Einsetzung nicht, und wird das Embryo nicht eingefroren („kryokonserviert“) so wird es verworfen und damit getötet.

Auch weisen die Autoren zurecht darauf hin, dass die Einschränkungen des Embryonenschutzgesetzes nicht für auf natürlichem Wege gezeugte Embryonen gelten und auch nicht für solche, die nach der Einnistung in der Gebärmutter entnommen werden. Letzterer Punkt gewinnt in unseren Tagen durch die Verwendung von Impfstoffen gegen Corona Brisanz, die mithilfe von Zelllinien entwickelt oder produziert werden, die gerade aus solchen Föten gewonnen wurden.

Auch zeigen die Autoren die Schwäche der derzeitigen Abtreibungsgesetzgebung, die in Paragraph 218 Strafgesetzbuch geregelt ist: wie der Nationaler Ethikrat und andere 2002 gezeigt haben, ergeben sich aus der Differenzierung „rechtswidrig, aber straffrei“ keine nennenswerten Rechtsfolgen. Aber all diese Argumente könnten genauso gut andersherum gelöst werden: wenn wir das Embryo konsequent schützen wollen, wieso ist die Abtreibung noch ohne Rechtsfolgen, wieso sind Nidationshemmer noch verfügbar, und wieso ist der „Deutsche Mittelweg“ mit der Produktion „überzähliger Embryonen“ in der Reproduktionsmedizin noch gangbar?

Selbstperfektionierung des Menschen als Ziel

Wohin führt aber die Reise, wenn wir uns von dieser „Maximalposition“ verabschieden und uns stattdessen „politische Kompromisse“ suchen, die der „Rechtswirklichkeit“ und der „lebensweltlichen Praxis“ entsprechen, wie es sich die Akademien wünschen? Hier ist der Bericht sehr offen, wie auch die angepeilten Embryonen-Forschungsfelder offen sind. Es geht um die Aufklärung der frühen molekularen Prozesse in der Entwicklung des Menschen und um die Verbesserung der Fortpflanzungsmedizin, aber auch um die Nutzung embryonaler Stammzellen für die „Zellersatztherapie“ sowie um die Analyse von Keimbahneingriffen mithilfe der CRISP/Cas9 „Genschere“.

Aber damit nicht genug: perspektivisch werden auch die Erzeugung „embryoähnlicher Strukturen“ aus im Reagenzglas hergestellten Keimzellen sowie die Erforschung von Embryonen über den bislang üblichen Rahmen von 14 Tagen ins Visier genommen. Hier wird auf einem wackeligen argumentativen Fundament die nahezu vollkommene Freigabe der Forschung an menschlichen Embryonen bis hin zur Keimbahnmanipulation gefordert. Obwohl die Forschung mit embryonalen Stammzellen bisher eher enttäuscht und noch zu keinem nennenswerten therapeutischen Erfolg geführt hat, wird ein Freifahrtschein für „hochrangige“ Forschung auf diesem Gebiet gefordert.

Zusammengenommen offenbaren diese beiden Berichte der Wissenschaftsakademien ein erbarmungsloses utilitaristisches Menschenbild, das nur knapp unter der Oberfläche den alten Traum der Selbstperfektionierung des Menschen durchschimmern lässt.

Neue Kooperationspartner im Lebensschutz?

Müssen wir vor diesem scheinbaren Megatrend des Zeitgeists kapitulieren? Haben wir es hier mit einer Einbahnstraße Richtung Verwertung des Menschen zu tun? Keinesfalls. Gerade in diesen Tagen zeigt die recht erfolgreiche #NoNipt-Kampagne gegen die Kassenzulassung der nicht-invasiven vorgeburtlichen Gendiagnostik, dass es eine neue Sensibilisierung in der Gesellschaft gegen die Selektion und Diskriminierung von andersartigen Menschen gibt. Zwar werden bei diesen Aktivitäten Begrifflichkeiten wie „Ableismus“ (aus dem Englischen „able“, „ability“ für „fähig“, „Fähigkeit“) verwendet, die vielen in der klassischen Lebensrechtsbewegung fremd klingen mögen, doch teilen ihre Protagonisten mit den Lebensrechtlern ein tiefes Unbehagen der zunehmenden Verzweckung des Menschen gegenüber.

Hier zitiert man am besten den Bericht der Akademien: „Teile der feministischen Bewegung haben sich ebenfalls kritisch gegenüber fortpflanzungsmedizinischen Techniken und Embryonenforschung ausgesprochen, zumeist aus Gründen des Schutzes der Frau sowie wegen Bedenken hinsichtlich einer Instrumentalisierung des Embryos in vitro für medizinisch-technische Zwecke“.7 Diese Bedenken hegen nicht nur Feministen: vielleicht ergeben sich aus dieser Entwicklung doch interessante Kooperations-Konstellationen für die Zukunft.

Der Autor ist Vorsitzender der Lebensrechtsorganisation „Ärzte für das Leben“.

Kommentar erschienen in: IDEA Das Christliche Spektrum 22.2021

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26.05.21: Leopoldina und Akademienunion sprechen sich erneut für Änderung des Embryonenschutzes in Deutschland aus

1) Die Mitglieder dieser Union sind die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, die Bayerische Akademie der Wissenschaften, die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, die Heidelberger Akademie der Wissenschaften, die Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz, die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste sowie die Akademie der Wissenschaften in Hamburg.

2) Cullen P., Kiworr M., Bauer A.W. Die Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina „Fortpflanzungsmedizin in Deutschland – für eine zeitgemäße Gesetzgebung“. Eine Analyse und Wertung aus der Perspektive des Lebensrechts. Zeitschrift für Lebensrecht 2020; 3: 65-76.

3) Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und Union der Deutschen Akademien der Wissenschaft. „Neubewertung des Schutzes von In-vitro-Embryonen in Deutschland“, S. 22.

4) Ebenda, S. 26 und Fußnote 68.

5) Ebenda, S. 27.

6) Ebenda, S. 29.

7) Ebenda. Seite 25, Fußnote 66.