Artikel im Spiegel-Online vom 21. Februar 2019

„Paragraf 219a. Das ist dran an den Aussagen von Abtreibungsgegnern“ von Irene Berres.

Ein Faktencheck zum Faktencheck

Von Paul Cullen, Vorsitzender des Vereins „Ärzte für das Leben“

Kurzversion vom 12.03.19

Siehe ergänzend: PDFBriefwechsel zwischen Prof. Cullen und Spiegel Online inkl. 6-seitiger Replik „Der Faktencheck zum Faktencheck“ (Kurzversion)

Den Artikel von Irene Berres habe ich mit Interesse gelesen. Ich bin dankbar, dass Frau Berres sich die Mühe gemacht hat, sich mit den Argumenten der „Ärzte für das Leben“ (nicht „Ärzte fürs Leben“, wie im Artikel erschienen) sachlich fundiert im Sinne eines Faktenchecks auseinanderzusetzen. Nur auf diese Weise können wir die lärmende Polemik hinter uns lassen und in einen ehrlichen und respektvollen Dialog miteinander treten. Hier also der „Faktencheck zum Faktenscheck“.

Dunkelziffer für Abtreibungen

Dunkelziffern bringen mit sich, dunkel zu sein. Das heißt, dass es nicht möglich ist, sie genau zu berechnen, nicht aber, dass es keine plausiblen Schätzungen geben kann. Frau Berres gibt das formale Meldeprozedere des Statistischen Bundesamtes korrekt wieder. Damit beschreibt sie aber ungewollt auch das Problem: dieses Prozedere ist nicht geeignet, die tatsächliche Anzahl der in Deutschland durchgeführten Abtreibungen vollständig zu erfassen, weil die Wahrhaftigkeit der Meldungen nicht überprüfbar ist. Für eine erhebliche Dunkelziffer gibt es indes mehrere stichhaltige Hinweise.

Während der 1980er Jahre konnten Abtreibungen ganz normal über die Krankenkassen abgerechnet werden, wurden aber gleichzeitig vom Statistischen Bundesamt erfasst. In dieser Zeit wurde nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung etwa ein Drittel mehr Abtreibungen abgerechnet als gemeldet. Zu dieser Zahl müssen die privat bezahlten Abtreibungen hinzuaddiert werden, die in den 1980er Jahren weder über die Kassen abgerechnet noch an das statistische Bundesamt gemeldet wurden.

Abtreibungen nach der „medizinischen“ oder „kriminologischen“ Indikation können weiterhin über die Kassen abgerechnet werden. Jedes Jahr werden etwa 4.000 solche Fälle gemeldet, während zwischen 6.000 und 7.000 über die Kassen abgerechnet werden. Auch Abtreibungen, die nicht gemeldet und unter einer anderen „Ziffer“ abgerechnet werden, werden nicht erfasst. Unter den in Frage kommenden Ziffern 1041, 1060 und 1104 werden sehr viele Fälle abgerechnet.

Schließlich legen Vergleiche mit dem Ausland nahe, dass die gemeldete Zahl der Abtreibungen hinter der Wirklichkeit herhinkt. Der österreichische Frauenarzt Christian Fiala, Leiter zweier „Abtreibungsambulanzen“ in Wien und ein starker Befürworter einer liberalen Abtreibungspraxis behauptete 2017, dass die Anzahl der Abtreibungen in Deutschland, gemessen an der Abtreibungshäufigkeit in vergleichbaren Ländern, von derzeit ca. 100.000 auf 200.000 bis gar 300.000 hochkorrigiert werden müsse.

So herrscht in Fachkreisen Einigkeit darüber, dass es bei den Abtreibungen in Deutschland eine erhebliche Dunkelziffer um etwa den Faktor zwei gibt. Bis zum Jahr 2000 hat das Statistische Bundesamt dies auch jedes Jahr in ihren Berichten unterstrichen. Die Zahlen seien nicht vollständig, weil bei den Landesärztekammern „keine oder nur unzureichende Erkenntnisse“ über die Ärzte vorlägen. Auch das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung teilte 2004 mit, dass seine Schätzungen vermuten ließen, „dass nur ca. 60 % der Schwangerschaftsabbrüche durch die Statistik gezählt werden.“

Schmerzempfinden bei Kindern vor der Geburt

Frau Berres zitiert eine Meldung auf unserer Website, dass bereits ab der neunten Schwangerschaftswoche ein Schmerzempfinden vorhanden sei. Sie bestreitet dies mit einem Hinweis, dass die „Nerven in der Wirbelsäule“ (sie meint wohl die Bahnen im Rückenmark) sich erst um die 19. Woche ausbilden, die Reize erst in der 23. Woche die „entscheidenden Regionen im Gehirn“ erreichen, aber erst ab der 30. Woche das „Baby wach ist“ und somit erst dann „etwas wahrnehmen kann“.

Die heutige Embryologie zeigt, dass diese Vorstellung von Frau Berres viel zu kurz greift.

Die anatomischen Grundlagen des Nervensystems des Menschen sind bereits in der 6. Schwangerschaftswoche etabliert. Auch die ersten Neuronen der Großhirnrinde werden ab der 6. Schwangerschaftswoche gebildet. Die Synapsen für den Reflexbogen im Rückenmark sind in der 10. Woche ausgebildet. Schmerzrezeptoren werden ab der 7.

Schwangerschaftswoche gebildet, beginnend mit dem Bereich um den Mund. Im Übrigen findet das Schmerzempfinden nicht nur in der Großhirnrinde, sondern auch in sogenannten „subkortikalen Strukturen“ wie dem Thalamus statt.

Bereits ab der 8. Schwangerschaftswoche zeigt das Kind reflexartige Bewegungen bei invasiven Maßnahmen. Funktionale Kernspin-Untersuchungen haben gezeigt, dass ab der 24. Schwangerschaftswoche auch in der Hirnrinde alle neuronalen Verbindungen zur Schmerzempfindung vorhanden sind.

Ganz im Widerspruch zur Meinung von Frau Berres ist es sogar eher wahrscheinlich, dass Kinder vor der Geburt eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit aufweisen. Die neuronalen Mechanismen, die bei älteren Kindern und Erwachsenen Schmerz unterdrücken, bilden sich nämlich später als die Nervenbahnen zur Schmerzempfindung aus und sind erst deutlich nach der Geburt voll ausgebildet.

Ohnehin ist das sogenannte „pathozentrische Argument“, also die Vorstellung, dass das Recht, nicht getötet zu werden, vor der Fähigkeit abhängt, Schmerzen zu empfinden, höchst problematisch. Gilt diese Tötungsfreigabe beispielsweise für die seltenen Menschen, die aufgrund einer genetischen Störung ohne Schmerzempfindung zur Welt kommen? Was ist mit jemandem in Vollnarkose? Und, da Schmerzen immer subjektiv sind, wer kann die Schmerzen eines anderen wirklich beurteilen? Wer den Film „Der Stumme Schrei“ von Bernard Nathanson (1984) gesehen hat, kann keinen Zweifel haben, dass das Kind bereits in der 12. Schwangerschaftswoche sehr wohl bei dem Abtreibungsvorgang leidet.

Im Übrigen erinnert die Meinung von Frau Berres an die bis vor nicht allzu langer Zeit allgemein gehaltene Vorstellung, dass die Zeit der frühesten Kindheit nicht besonders wichtig sei, weil wir uns nicht aktiv daran erinnern können. Heute wissen wir, dass diese „stumme Zeit“ die allerwichtigste für das Gelingen der Entwicklung ist. Es scheint sogar ein gewisser Chauvinismus durch: Nur derjenige ist zu beachten, der sich aktiv zu wehren weiß.

Psychische Folgen der Abtreibung

Bis zum Alter von 45 Jahren hat etwa jede vierte Frau in Deutschland mindestens einmal abgetrieben. Wir haben es somit hier mit keinem Randphänomen zu tun, sondern mit einer Sache, die wahrscheinlich beinahe jeden Haushalt und jede Familie unmittelbar betrifft.

Gerade bei einer solchen massenhaft angewendeten medizinischen Prozedur ist es also essentiell, dass ein Nutzen gezeigt wird während Nebenwirkungen möglichst vermieden werden.

Frau Berres zitiert eine große Übersicht des britischen „National Collaborating Centre for Mental Health“, sowie ein Editorial der Fachzeitschrift „JAMA Psychiatry“, um zu dem Schluss zu kommen, dass es psychische Schäden im Sinne eines „Post-Abortion Syndroms“ (damit ist eine Sonderform der post-traumatischen Belastungsstörung gemeint) nicht gibt.

Mit dieser Schlussfolgerung macht sich Frau Berres die Sache viel zu leicht. Selbst die beiden von Frau Berres zitierten Arbeiten bestreiten nicht, dass einige Frauen nach einer Abtreibung schwere psychische Störungen aufweisen. Der Bericht des „National Collaborating Centre for Mental Health” ist acht Jahre alt und basiert trotz seines großen Umfangs auf der Auswertung von ganz wenigen Studien. Deshalb muss bezweifelt werden, ob er für das ganze Forschungsfeld repräsentativ ist, zumal die Auswahlkriterien für die berücksichtigten Studien nicht unproblematisch sind. Bezüglich der Risikofaktoren für psychische Probleme nach Abtreibung herrscht allgemein Konsens.

Die wichtigsten sind: geringe selbsteingeschätzte Fähigkeit mit der Abtreibung fertig zu werden; der Glaube, dass es sich um ein menschliches Kind oder um die Tötung eines Kinds handelt; emotionale Bindung zur Schwangerschaft oder zum Kind; Ambivalenz oder große seelische Belastung; externer Zwang abzutreiben; fortgeschrittene Schwangerschaft; eine prä-existente psychische Erkrankung; sexueller Missbrauch oder andere Traumata in der Vergangenheit. Viele Studien zu diesen Risikofaktoren wurden in der britischen Übersicht nicht berücksichtigt.

Die zweite von Frau Berres zitierte Arbeit ist ein anderthalbseitiges Editorial, also weder eine Originalarbeit noch eine belastbare Übersicht oder gar Metaanalyse. Die Hauptautorin des Editorials, Dr. Nada L. Stotland, ist ein ehemaliges Vorstandsmitglied der Organisation „Physicians for Reproductive Health“, deren Ziel laut der eigenen Webseite darin besteht, den Zugang zur Abtreibung zu erleichtern. Im Übrigen berichtet Stotland an anderer Stelle über das Auftreten von psychischen Problemen bei einer Patientin mit einer Fehlgeburt, die auf eine frühere Abtreibung zurückzuführen waren.

Neuere Untersuchungen widersprechen diesen beiden Arbeiten. So belegte eine erschöpfende und neutrale Auswertung der wissenschaftlichen Literatur durch die Psychologin Vilté Daugirdaité aus Vilnius im Jahr 2015, dass eine posttraumatische Belastungsstörung nach Abtreibung nicht nur bei den Müttern, sondern auch bei den Vätern auftreten kann. Auch die australische Gesundheitsexpertin Kaeleen Dingle berichtete 2011, dass bei den Partnern von Frauen, die abgetrieben haben Drogenmissbrauch, Depression und Selbstmord gehäuft zu beobachten sind.

Selbst eine erschöpfende neue Analyse der Literatur durch die irische „Crisis Pregnancy Agency“, die die neuerliche Liberalisierung der Abtreibungsgesetzgebung in Irland stark unterstützt hat, gibt zu, dass einige Frauen nach einer Abtreibung an starken psychologischen Auswirkungen leiden. Dieser Bericht aus Irland bestätigt die oben genannten Risikofaktoren für psychologischen Störungen nach Abtreibung und ergänzt diese noch: solche Probleme sind auch dann wahrscheinlicher, wenn eine gewollte Schwangerschaft wegen einer Missbildung des Kindes durch Abtreibung beendet wird.

Zentrale ethische Prinzipien der Medizin sind: Erstens, dass man zunächst kein Unheil anrichten soll und zweitens, dass das Wohl des Patienten im Zentrum allen ärztlichen Handelns stehen muss. Nach diesen beiden Prinzipien darf eine Behandlung nur dann durchgeführt werden, wenn sie dem Wohl des Patienten dient oder zumindest ihm nicht schadet. Erfüllt die Durchführung einer Abtreibung zur „Lösung“ einer Konfliktschwangerschaft diese Kriterien? Wenn auch das Ausmaß der psychologischen Störungen nach Abtreibungen stark diskutiert wird, ist in einem Punkt die Fachliteratur einhellig: Es ist nie gezeigt worden, dass eine Abtreibung die psychische Situation der schwangeren Frau verbessert.

Dieser Befund mag überraschen, denn gerade die Abwendung eines psychischen Schadens wird von vielen als der Grund angesehen, warum eine Abtreibung in vielen Fällen nicht nur gerechtfertigt, sondern auch geboten ist. So hat die „American Psychological Association“ 2008 berichtet, dass eine Abtreibung zwar den unmittelbaren Druck einer ungewollten Schwangerschaft mindern kann, aber selbst zum Stress führen kann. Auch der bekannte Epidemiologe David Fergusson aus Christchurch, Neuseeland wies mehrfach darauf hin, dass die Behauptung, eine Abtreibung verringere das psychische Risiko für die Frau, durch die Fachliteratur nicht belegt wird.

Eine umfassende Bewertung der wissenschaftlichen Literatur zeigt also eindeutig, dass einige Frauen nach einer Abtreibung Symptome einer post-traumatischen Belastungsstörung aufweisen. Die Faktoren, die das Risiko einer psychischen Störung erhöhen, haben im Kern mit einem Zwang zur Abtreibung oder mit einer Ambivalenz der Frau gegenüber der Schwangerschaft zu tun, und nicht, wie vielfach behauptet, mit einer gesellschaftlichen Ächtung der Abtreibung.

Die Befürworter einer liberalen Abtreibungspraxis sind nicht nur der Meinung, dass eine Abtreibung keine psychischen Probleme verursache, sondern behaupten, sie würde solche sogar lösen. Hierfür gibt es in der Fachliteratur schlicht keinen Hinweis. So muss man zu dem Schluss kommen, dass die heutige Abtreibungspraxis keinesfalls die Nöte der Frau im Mittelpunkt hat. Hierzu passt auch, dass die meisten Abtreibungen nicht von Frauenärzten, sondern von Allgemeinmedizinern oder gar von praktischen Ärzten ohne jegliche Fachqualifikation durchgeführt werden.

Anm.: Die Langfassung dieses Beitrages inkl. Literaturangaben erscheint im Lebensforum 2 / 2019