Rezensionen

Brahier, Gabriele: Medizinische Prognosen im Horizont eigener Lebensführung. Zur Struktur ethischer Entscheidungsfindungsprozesse am Beispiel der pränatalen genetischen Diagnostik, Tübingen, Mohr-Siebeck Verlag 2011, ISBN 978-3-16-150810-3, 282 S., br., 79,- Euro

Die Möglichkeiten moderner Medizin gestalten sich immer detaillierter: Diagnosen erweisen sich zunehmend als gesichert, therapeutische Eingriffe werden faktisch erfolgreicher. Somit werden Diagnosen oft als weit vorausreichende Auskunft über die eigene Biografie gedeutet. Sie wandeln sich in ihrer praktischen Stoßrichtung zu Prognosen, welche die individuelle Lebensgestaltung nachhaltig beeinflussen, sie fördern oder beeinträchtigen können. „Was bedeutet es für mich, wenn ich mit 50% Wahrscheinlichkeit in 10-15 Jahren an Darmkrebs erkranken werde…wenn wir mit einer Wahrscheinlichkeit von 1: 280 ein Kind mit Trisomie 21 bekommen?“ (1). Wie nachhaltig beeinflussen solche Prognosen Entscheidungsprozesse zur Lebensgestaltung? Besteht nicht zugleich auch eine Art gesellschaftlicher Zwang zu einem allgemein als folgerichtig akzeptierten Handeln? Schließlich ist jedermann auch Kind (s)einer Zeit. Was verbleibt uns als Frau oder Mann an souverän persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung?

Die Autorin, evangelisch reformierte Theologin und Forschungsassistentin am Universitären Forschungsschwerpunkt Ethik der Universität Zürich, stellt ihre ärztlich begleitete empirische Interview-Studie mit neun schwangeren Frauen und deren „Entscheidungsfindungsprozesse am Beispiel der pränatalen genetischen Diagnostik“ im 3. Kapitel (90- 158) in den Mittelpunkt ihrer philosophisch-theologischen Ausführung zum angesprochenen Themenkreis. Wie erklären die einzelnen freiwilligen Probandinnen ihre jeweilige Ablehnung oder Zustimmung zur Durchführung von pränatalen Chromosomentesten an ihren ungeborenen Kindern? Eine wichtige Frage in einer Zeit, in der solche Angebote mehr und mehr nicht-invasiv, also ohne unmittelbares Risiko für den ungeborenen Menschen bestehen. Unabhängig von der technischen Möglichkeit provoziere jede solche medizinische ‚Maßnahme‘ im Blick auf die damit gegebenen Konsequenzen ein hohes Maß an Ambivalenz. Als häufigster Beweggrund für eine Zustimmung zu den deutlich risiko-belasteten Testverfahren der Amniocentese und Chorionzottenbiopsie ergab sich in der vorgelegten Studie die Antizipation einer unzumutbaren Beeinträchtigung der individuellen Lebensplanung durch ein behindertes Kind. „Welchen Schweregrad einer Behinderung kann ich mir vorstellen?“ Birgt (jede) Behinderung Sinn? (142) Die Antwort hängt offenkundig von der persönlichen Wahrnehmung und dem „subjektiven Deutungsvollzug der befragten Frauen“ ab (145). Das ist verstehbar, doch im Rahmen eines aufgeklärten gesellschaftspolitisch angestrebten Inklusionsmodells für behinderte Menschen eigentlich unzeitgemäß, ja rückwärtsgewandt. Denn ein Recht auf ein gesundes Kind gibt es nicht.

Es stellt sich die Frage nach der Verantwortung beratender Ärzte in Bezug auf ihre Diagnostikempfehlungen. Zur Diskussion steht dabei die Problematik des formal geforderten „informed consent“ (34), der so umfangreich und individuell wie möglich zu leisten ist. Dabei geht es nicht nur um rationale Darstellung und Klärung medizinischer Fakten, sondern um das „Verstehen“ der Beratenen in ihrer je eigenen Situation. Vielfach übersieht der Berater, dass die medizinischen Informationen von den Beratenen nur schrittweise wahrgenommen, ja zugelassen werden und nicht im Kontext der individuellen biographischen Situation, erst recht nicht im gesamten Weltanschauungs- und Lebensrahmen Erwägung finden. Ob hierbei personale Selbstbestimmung aufrechterhalten und gestärkt oder beeinträchtigt bzw. übergangen wird, durchleuchtet die Autorin kritisch. Sie stellt diese Problematik in den Rahmen eines philosophischen Exkurses über Autonomie und Freiheit. Ausgehend vom Prinzipienansatz von Tom L. Beauchamp und James F. Childress (39), bei dem die soziale Dimension des menschlichen Lebens vernachlässigt erscheint, wird diese von A. Leist’s „Ethik der Beziehungen“ oder der verantwortungsbewussten ‚Ethik der Elternschaft‘ (Cl. Wiesemann) aufgenommen und vertieft: Für derartig bedeutungsvolle Entscheidungsprozesse gelte nicht die isolierte, rationalisierte Autarkie, vielmehr seien die jeweils spezifischen Beziehungs-, Fürsorge- und Verantwortungshorizonte zu integrieren. Der oft angeführte und teilweise abgenutzte Begriff der personalen Autonomie sei daher zu konfrontieren mit medizinethischen, philosophischen und sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnissen.

Hier geht die Autorin auf den Soziologen Ervin Goffmann ein (52): die Person ist „Darsteller“ und spielt eine „Rolle“ in einem sozialen Feld; in der Ausübung von Rechten und Pflichten soll sie Erwartungen erfüllen und das ‚eigene Gesicht wahren‘ können. „Spielen wir alle nur Theater“, wie Goffmann meint? Wenn ‚Auftreten‘ und die gepflegte ‚Fassade‘ für unser Menschsein zentral sein sollen, unterliegt unser Handeln öffentlich sozialer Kontrolle. Wie viel Autonomie verbleibt da? Im Blick auf das Menschenbild der Moderne spricht H. Keupp von „Patchwork-Identität“, zu welcher das Offenhalten verschiedener Optionen und selbst die biographische Verknüpfung widersprüchlicher ‚Fragmente‘ gehörten. Sozialpsychologisch wird individuelles Leben als experimentelles Leben dargestellt, wobei das Gelingen in einer ‚Bastelbiographie‘, ‚Risikobiographie‘ und ‚Bruch- oder Zusammenbruchsbiographie‘ offen bleibe. Diese Beobachtungen zeigen die Zwänge in der heutigen Lebenswelt und die Beschränkung autonomer Lebensgestaltung auf. Ist das „eigene Leben… gar kein eigenes Leben?“, fragen Ulrich Beck und Ulf Erdmann Ziegler folgerichtig (60).

Aus der Studie selbst geht zunächst hervor, dass sich die Entscheidung für Durchführung oder Ablehnung pränataler Testverfahren emotional wesentlich auf die eigene Lebensperspektive mit einem behinderten Kind und die Stellung zu Abtreibung bezog, dann auf die Einschätzung von Risiken für Partner, bestehende Familie und das Urteil der Mitwelt. Wie beeinflussen ethische Überlegungen und persönliche Werthaltungen diese Entscheidungen? Hier ergaben sich unterschiedliche Motive: Mutterrolle, Partnerrolle, das Berufsleben, Problematik und Sinnhaltigkeit kindlicher Behinderung und deren Ausprägung – doch sei es allen Beteiligten, so die Autorin, um die individuelle Vorstellung einer guten Lebensgestaltung gegangen (153).

Hier nun schließt sich die philosophische und theologische Erkundung von Frau Brahier an, die sich eingehend mit Paul Ricoeurs Theorie der narrativen Identität und seiner Dialektik von Selbstheit und Selbigkeit befasst und schließlich zu dessen „kleiner Ethik“ führt (169ff). „Das Selbst als ein Anderer“ reichert sich im Lebenslauf unter dem Prinzip der „Fürsorge“ permanent an, lässt die wahren und fiktiven Geschichten, die das Subjekt über sich erzählt, als ein dichtes Gewebe erkennen und als Basis für die Identität der Person wiederfinden. Der strebensethischen Dimension des Selbst müsse jedoch eine „moralisch-normative Regulierungsinstanz zur Seite gestellt werden“, so etwa Ricouers Verweis auf die Kant’sche Pflichtenethik. „Personale Identität gewinnt ihre Kontinuität in moralischer Hinsicht durch die Übernahme von Verantwortung für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“(181). Das kann über Irrwege und Umwege führen, da sich der Mensch selbst immer nur fragmentarisch erkennt. Über Rawls Gerechtigkeitstheorie führt die Autorin zu Wolfhart Pannenbergs „Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie“ von 1968. Der Mensch, „ursprünglich immer schon beim andern seiner selbst“ (187), ist und bleibt das Sinn deutende und damit religiöse Wesen. Antizipierte Lebensganzheit ist insofern Möglichkeitsbedingung individueller Sinnfindung und freiheitlicher Lebensgestaltung, die auf dem Vertrauen auf Gott basiert. Ihm dürfen wir unser „Unvollständig-Bleiben“, das „Fragmentarische“ an uns anheimstellen (203).

Das Ergebnis für die ärztliche Beratung im Rahmen pränataler Diagnostik: ein rein rational begründeter „informed consent“ wird der Situation schwangerer Frauen nicht gerecht. Das Beratungsgespräch ist medizinethisch, philosophisch und sozialwissenschaftlich auszuweiten. Theologisch gesprochen, sollen sich die Beratenen, gerade im Hinblick auf die Kürze der Kommunikationszeit, als voll angenommen begreifen. Ein entsprechender Neu-Entwurf zum Beratungsgespräch in der Schweiz liege bereits vor (216).

Darüber hinaus sollte aus allgemeinärztlicher Erfahrung und psychotherapeutischem Wissen hier auch das Postabortionsyndrom angesprochen werden, das besonderer Therapie bedarf. Denn etwas kommt in dem lesenswerten Werkes zu kurz: der humane Aspekt vom Vorrecht des ungeborenen Kindes auf sein Leben, sei es gesund oder behindert. Dass dies juristisch vor dem selbstbestimmten individuellen Lebensgestaltungsplan seiner Mutter und seiner Eltern steht, findet nur kurz am Ende der Studie Erwähnung (220). Doch ist dies nicht von eigentlichem anthropologischem Gewicht? Zudem bleibt der Begriff des Gewissens im Sachregister unerwähnt. Ist nicht gerade er von zentraler Bedeutung „im Horizont eigener Lebensführung“? Oft wird bei der Tötung des Ungeborenen mit ‚Gewissensfreiheit‘ argumentiert, aber ohne dieselbe als moralisches Gehör für die Gebundenheit an vorgegebene Weisungen zu verstehen, von denen theologisch der Römerbrief 2, 14-15 spricht. Könnte denn ein weltlicher Richter jemals ohne Gesetzesbindung zu Recht urteilen?

Dr. Maria Overdick-Gulden, Trier

erschienen in Trierer Theologische Zeitschrift 1/2014