Am 6. November entscheidet der Deutsche Bundestag über die gesetzliche Neuregelung der Beihilfe zum Suizid – Zwischenruf eines Arztes.
Von Paul Cullen
(Beitrag erschienen in „Die Tagespost“ am 23.10.15)
Der Arzt soll und darf nichts anderes tun, als Leben erhalten, ob es ein Glück oder Unglück sei, ob es Wert habe oder nicht, dies geht ihn nichts an. Und maßt er sich einmal an, diese Rücksicht in sein Geschäft mit aufzunehmen, so sind die Folgen unabsehbar und der Arzt wird zum gefährlichsten Menschen im Staate.“ Das schrieb im Jahre 1806 Christoph Wilhelm Hufeland (17621863), der als königlicher Leibarzt die Familie des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. betreute und zum Direktor und „Ersten Arzt“ der Berliner Charité ernannt wurde. Wie der Medizinhistoriker Klaus Axel Dörner neulich bemerkte, besitzen diese Sätze Hufelands einen prophetischen Charakter.
In den Niederlanden wurde im Jahr 2014 von allen Gestorbenen nach offizieller Meldung jeder fünfundzwanzigste Patient (5 033 von insgesamt 139 073 Todesfällen) vorsätzlich durch einen Arzt getötet; weitere 273 haben mithilfe eines Arztes Selbstmord begangen. Noch bedrohlicher: Bereits in den 1990er Jahren wurde gezeigt, dass in den Niederlanden jedes Jahr mehrere Tausend Patienten Schmerzmittel in bewusst tödlicher Dosierung erhalten und zwar ohne ihre Zustimmung. In den meisten Fällen tötet der Hausarzt, also gerade der Arzt, der in einer besonders engen Beziehung zum Patienten steht. Selbst bei Kindern, psychisch Kranken und Dementen, also bei Unmündigen, findet „Tötung auf Verlangen“ und die Beihilfe zum Suizid durch Ärzte statt. Selbst vor „Lebensmüden“, die körperlich und geistig gesund sind, wird kein Halt gemacht.
Am 6. November stimmt der Deutsche Bundestag über eine gesetzliche Regelung der Suizidbeihilfe ab. Vier Gesetzesentwürfe stehen zur Abstimmung. Zwei hiervon sehen eine weitgehende Freigabe des assistierten Suizids vor, mal mit Einschränkungen (Hintze-Entwurf), mal ohne (Künast-Entwurf). Bei beiden Entwürfen spielen Ärzte eine besondere Rolle. Professor Karl Lauterbach, selbst Arzt und als stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD ein prominenter Mitautor des Hintze-Entwurfs, nimmt hier kein Blatt vor den Mund. Im Oktober 2014 bemerkte er in einem Interview mit der Zeitschrift Stern: „Sobald ein Arzt beteiligt ist, sinkt in jedem Fall das Risiko, dass die Selbsttötung misslingt.“
Derzeitiger Favorit des Parlaments ist ein dritter Entwurf, der federführend von dem CDU-Abgeordneten Michael Brand verfasst wurde. Dieser sieht ein Verbot jeder Form der organisierten Suizidbeihilfe vor, erlaubt aber diese für Angehörige und „nahestehende Personen“. Im Brand-Entwurf werden Ärzte nicht eigens erwähnt. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags befand deshalb in einem Gutachten, es sei „fraglich“, dass der Brand-Entwurf dem Bestimmtheitsgebot des Grundgesetzes genüge, da nicht klar sei, „ob (…) sich Ärzte, die im Rahmen ihrer Berufstätigkeit Sterbehilfe leisten, strafbar machen“. Der vierte Entwurf stammt federführend vom CDU-Abgeordneten Patrick Sensburg und verbietet die Suizidbeihilfe kategorisch.
Es fällt auf, dass auch die Akteure, die für eine möglichst breite Freigabe der organisierten Suizidbeihilfe selbst im nebulösen Falle der „schweren (…) Erschütterung“ plädieren (Künast-Entwurf), sich davor hüten, der „Tötung auf Verlangen“ das Wort zu reden. Dabei ist diese in der assistierten Selbsttötung unweigerlich angelegt.
Der Suizidhelfer besorgt dem Suizidenten das tödliche Mittel, ohne das er sich selbst nicht töten könnte. Was aber, wenn der Suizidversuch misslingt? Dass dies kein theoretisches Risiko ist, lässt sich an den gelegentlichen Schwierigkeiten bei der Vollstreckung von Todesurteilen per Giftspritze in der Vereinigten Staaten von Amerika beobachten. Wer soll sich in solchen Fällen mit welchem Ziel um den Betroffenen kümmern? Ist der Betreffende ein Fall für die Intensivstation oder für eine tödliche Injektion? Wie der Arzt und CDU-Bundestagsabgeordnete Rudolf Henke treffend bemerkte, ist die Abgrenzung der Beihilfe zum Suizid zur „Tötung auf Verlangen“ „sehr, sehr unscharf und (…) wird mit der Zeit notwendigerweise verschwinden“.
Die ärztlich assistierte Selbsttötung führt aber nicht nur zur „Tötung auf Verlangen“. Erfahrungen in den Niederlanden und anderswo zeigen, dass im nächsten Schritt die „Tötung auf Verlangen“ zur „Tötung ohne Verlangen“, also zur „Euthanasie“ führt. Wie der Osnabrücker Sozialethiker Manfred Spieker schreibt: „Wer dem Arzt die Macht einräumt, die Erträglichkeit des Leidens, die Perspektiven des Weiterlebens und den Lebenswert zu definieren, öffnet den Weg zur Sterbehilfe ohne Verlangen.“
Dass das ärztliche Standesrecht nicht ausreicht, die ärztliche Beihilfe zum Suizid zu verbieten und so die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Lebensrechts zu sichern, sieht man daran, dass die Ärztekammer in Bayern, Baden-Württemberg und Westfalen-Lippe in ihren Berufsordnungen in diesem Punkt von den Vorgaben der Musterberufsordnung der Bundesärztekammer abweichen, dass „[Ärzte] keine Hilfe zur Selbsttötung leisten [dürfen]“. Laut Spieker ist daher eine Regelung wie die im österreichischen Strafgesetzbuch, die jegliche Beihilfe zum Suizid mit der Tötung auf Verlangen gleichsetzt und verbietet, „juristisch die einzig logische und moralisch die einzig richtige Lösung“. Nur der Sensburg-Entwurf bietet eine solche Regelung.
Die Frage der Beihilfe zur Selbsttötung betrifft den Kern des Arztseins. Wir Ärzte sind nicht bloße Medizintechniker, die technisierte Lösungen für gesundheitliche Probleme anbieten. Unsere Aufgabe als Ärzte ist es vielmehr, neben dem Heilungsauftrag das Leid unserer Patienten zu mindern und dem Leidenden Beistand, Zuwendung und Fürsorge zu bieten. Auf keinen Fall dürfen wir uns dafür hergeben, den Leidenden zu beseitigen, indem wir Beihilfe zum Suizid leisten. Denn dies wäre ein Bruch mit jener seit 2 400 Jahren gepflegten Tradition des Hippokratischen Eides, der jede Beteiligung an der Tötung oder Selbsttötung eines Patienten ausschließt.
Es ist keine Übertreibung klar zu sagen, dass dieser Schritt das faktische Ende des ärztlichen Berufs nach herkömmlichem Verständnis bedeuten würde. Aus diesem Grund haben 350 Ärztinnen und Ärzte in einem im September auf der Webseite des Deutschen Ärzteblatts veröffentlichten Offenen Brief ihre Ablehnung der ärztlichen Suizidbeihilfe zum Ausdruck gebracht. Wir hoffen, dass unsere Parlamentarier von dieser Ablehnung Kenntnis nehmen und sich ein Beispiel an ihren Kollegen im britischen Unterhaus nehmen. Diese haben im September die ärztliche Suizidbeihilfe mit großer Mehrheit kategorisch abgelehnt. In dieser Debatte sagte der britische Premierminister David Cameron, er wolle den Weg zur Euthanasie nicht beschreiten. Wir Ärzte in Deutschland wollen dies auch nicht.
Prof. Dr. Paul Cullen ist habilitierter Labormediziner und 1. Vorsitzender der „Ärzte für das Leben“