06.10.20: Diskussionsbeitrag zum Ärzteblatt-Thema „Das Dilemma der Reproduktionsmedizin“
Am 11. September 2020 erschien im Deutschen Ärzteblatt 117(37): A-1666 / B-1428 ein Beitrag zum Thema „Embryonenschutzgesetz: Das Dilemma der Reproduktionsmedizin“ sowie „Reproduktionsmedizin: Junges Fachgebiet, alte Gesetze“ von Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann. Hierzu gibt es aus den Reihen der Ärzte für das Leben e.V. einen Diskussionsbeitrag vom 18.09.20, den wir nachfolgend im Wortlaut veröffentlichen.
Der Beitrag erschien in gekürzter Form als Leserbrief unter der Überschrift „Reproduktionsmedizin: Naturalistischer Fehlschluss“ in Dtsch Arztebl 2020; 117(40): A-1873 / B-1593 vom 02.10.2020
An das Deutsche Ärzteblatt, 18. September 2020
Diskussionsbeitrag zur Titelgeschichte des 11. September 2020: Reproduktionsmedizin: „Das Dilemma der Reproduktionsmedizin“ sowie „Junges Fachgebiet, alte Gesetze“ von Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
Paul Cullen a), Michael Kiworr b) und Axel W. Bauer c)
a) Am Blütenhain 33, 48163 Münster. cullen@web.de; b) Marsweg 20, 68305 Mannheim. mkiworr@gmx.de; c) Fachgebiet Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg, Theodor Kutzer-Ufer 1-3, 68167 Mannheim. axel.bauer@medma.uni-heidelberg.de
Das Embryonenschutzgesetz (ESchG) steht unter Beschuss. Im März 2019 verfasste die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina eine ausführliche Kritik des Gesetzes1, die gefolgt wurde von einem „Memorandum für eine Reform des Embryonenschutzgesetzes“2 seitens des Vorstands der Bundesärztekammer (BÄK) am 14. Februar 2020. Ohne dies explizit zu erwähnen, griff das „Memorandum“ auf viele der Leopoldina-Forderungen zurück und baute sie weiter auf. Am 11. September 2020 wurde diese Sachlage von Eva Richter-Kuhlmann im DÄ umfassend besprochen.3, 4
Alle diese Dokumente sind anspruchsvoll geschrieben und technisch einwandfrei. Ausgangspunkt der Kritik in allen vier Fällen ist die Behauptung, das inzwischen 30 Jahre alte ESchG entspreche nicht mehr dem Stand der Technik und werde den zwischenzeitlich gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht gerecht. Dennoch weisen alle drei einen logischen Fehler auf, wie wir an anderer Stelle ausführlich dargestellt haben.5 Denn das ESchG ist kein technisches Handbuch, sondern in erster Linie eine moralische Grenzziehung mit dem Ziel, das Lebensrecht des menschlichen Embryos zu schützen.
Wenn wir die Eizellspende einmal beiseite lassen, ist Dreh- und Angelpunkt der ganzen Diskussion der moralische Status des Embryos. Mit der Leopoldina sind wir einer Meinung, dass der neue Mensch mit der Befruchtung entsteht. Im Unterschied zur Leopoldina und BÄK sind wir jedoch der Auffassung, dass dieser Mensch ab diesem Zeitpunkt vollständig mit allen Rechten einer Person existiert. Somit lehnen wir explizit die Vorstellung des BÄK-Memorandums ab, dass dessen Schutzwürdigkeit etwa von seiner „Entwicklungsfähigkeit“ oder von anderen Charakteristika abhängt.
Es gibt aus unserer Sicht keine „werdenden Menschen“ und erst recht kein „werdendes Leben“, so wenig wie es, um einen Begriff der Leopoldina aufzugreifen, „zukünftige Kinder“ gibt. Für uns sind alle Versuche, eine Grenze zwischen „noch nicht Mensch“ und „bereits Mensch“ zu ziehen, sei es die Implantation, der Herzschlag, die Bildung des Großhirns, die Schmerzempfindlichkeit, die Geburt oder gar die Bildung des Selbstbewusstseins beim Kleinkind, willkürlich und nicht zufriedenstellend in der Sache selbst begründet.
Auch ein gradualistischer Ansatz in der Zeit kurz nach der Befruchtung, der „prozessuale Charakter der Fertilisation und Embryogenese“, wie die BÄK dies nennt, überzeugt nicht. Nach der Befruchtung ist der neue Mensch vollständig präsent, seine Entwicklung erfolgt ab diesem Zeitpunkt von sich heraus, ohne dass weiteres wesensbestimmendes Material von außen hinzukommt. Hiermit wird übrigens impliziert, dass auch das Vorkernstadium „menschliches Leben“ darstellt, eine Position, die unter anderem vom Schweizer Embryologen Günter Rager geteilt wird.6
Die Sicht der Leopoldina und der BÄK in Bezug auf das Lebensrecht, dass dieses sich erst nach und nach verfestige, mag für das Fach Reproduktionsmedizin und die Lebensentwürfe vieler Menschen tröstend und zweckdienlich sein, doch ist sie weder logisch stringent noch biomedizinisch begründbar. Sie fordert eine Einstellung, in welcher der Schwächere zur Verfügungsmasse des Stärkeren wird.
Unsere Position mag rigoristisch erscheinen, doch ihre Preisgabe führt zu einer Beliebigkeit, die als Maßstab nur noch den jeweiligen „Zeitgeist“ akzeptiert. Diese Beliebigkeit ist zudem Ausdruck eines naturalistischen Fehlschlusses, der für gewöhnlich uns von den Vertretern einer positivistischen Rechtsauffassung unterstellt wird: Nur, weil die Gesellschaft so ist, wie sie ist, und nur, weil in der Natur eine gewisse „Selektion“ von Embryonen stattfindet, kann nicht deduktiv daraus geschlossen werden, dass diese Zustände zwingend richtig sind.
Auch der Leopoldina sind diese Widersprüche bekannt, fragt ihre Stellungnahme doch, „ob es logisch möglich ist, das Wohl einer Person durch Verhinderung ihrer Geburt zu schützen“. Das Axiom, um das es hier geht, dass jedes Mitglied der Spezies Homo sapiens Träger einer nicht abstufbaren Menschenwürde ist, ist keine Petitesse, sondern Grundlage der Verfassungsordnung in Deutschland und der ganzen westlichen Welt.
Laut ihrer Selbstbeschreibung beschäftigt sich die Reproduktionsmedizin mit den Grundlagen, der Kontrolle sowie mit Störungen der menschlichen Zeugungsfähigkeit. Von vorneherein lag ihr Schwerpunkt jedoch nicht etwa auf der Unterstützung der natürlichen Fortpflanzung oder der Erforschung der Gründe für den oft ungewollten Rückgang der Fruchtbarkeit, den man in Deutschland und weltweit beobachtet, sondern fast ausschließlich auf Methoden der künstlichen Reproduktion. Hierbei wird das Lebensrecht des Kindes dem Ziel, eine Schwangerschaft herbeizuführen, untergeordnet. Sogar das (verständliche) Recht, die eigene Abstammung zu kennen, wird für wichtiger erachtet als das Recht, überhaupt geboren zu werden.
Auch wir sind für eine Modernisierung des ESchG. Dieser Impuls sollte jedoch nicht in Richtung seiner Lockerung gehen, sondern vielmehr in Richtung einer Straffung, um aktuellen Bedrohungen durch Selektion, neue Eugenik und nicht zuletzt durch grassierende Kommerzialisierung besser begegnen zu können. Zumindest im letzten Punkt sind wir mit der Leopoldina und der BÄK einer Meinung.
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1 Fortpflanzungsmedizin in Deutschland – für eine zeitgemäße Gesetzgebung. Herausgegeben von Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und Union der deutschen Akademien der Wissenschaften 2019, 128 Seiten, ISBN: 978-3-8047-3423-4
2 Bekanntmachung der Bundesärztekammer „Dreierregel, Eizellspende und Embryospende im Fokus – Memorandum für eine Reform des Embryonenschutzgesetzes, verfasst unter Federführung von Krüssel J.S. vom Arbeitskreis „Offene Fragen der Reproduktionsmedizin“. Deutsches Ärzteblatt DOI: 10.3238/baek_mem_esg_2020
3 Richter-Kuhlmann E. Das Dilemma der Reproduktionsmedizin. Deutsches Ärzteblatt 2020; 117: A1666-A1668
4 Richter-Kuhlmann E. Junges Fachgebiet, alte Gesetze. Deutsches Ärzteblatt 2020; 117: A1670-A1674
5 Cullen P., Kiworr M., Bauer A.W. Die Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina „Fortpflanzungsmedizin in Deutschland – für eine zeitgemäße Gesetzgebung. Eine Analyse und Wertung aus der Perspektive des Lebensrechts. Zeitschrift für Lebensrecht 2020; 3: 65-76.
6 Cullen, Kiworr, Bauer. Ebenda, Fußnote 1.