12.09.18 Debatte um Widerspruchslösung: Der Leib ist kein Ersatzteillager

Die „doppelte Widerspruchslösung“ des Gesundheitsministers Jens Spahn ist keine Lösung für die Krise der Transplantationsmedizin. Von Professor Paul Cullen

Der folgende Beitrag erschien in „Die Tagespost“ am 12.09.18

Am 31. August 2018 hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn den Referenten-Entwurf für ein „Gesetz für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende (GZSO)“ vorgestellt. Der Entwurf wurde am 3. September von einem Interview auf der ersten Seite der „Bild“-Zeitung flankiert, in dem Herr Spahn sich für eine „doppelte Widerspruchslösung“ ausspricht. Künftig soll jeder als Organspender in Betracht kommen, der selbst oder dessen Angehörigen einer Organspende nicht ausdrücklich widersprochen hat beziehungsweise haben. Folgerichtig verpflichtet § 9a des neuen GZSO alle Krankenhäuser dazu, Hirntote „nach ärztlicher Beurteilung“ auch dann „unverzüglich“ als potenzielle Organspender zu melden, wenn keine Einwilligung des Spenders oder seiner Angehörigen vorliegt.

Möglicherweise als Reaktion auf viele negative Kommentare in den Medien hat Herr Spahn in einem Gastbeitrag der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ am 5. September nachgelegt. Dort bemüht er eine orwell‘sche Argumentation so gewunden wie eine Brezel: „Eine Pflicht, zu der man konsequenzlos ,nein’ sagen kann, ist keine Pflicht. Was stimmt: Es wäre eine Pflicht zu aktivem Freiheitsgebrauch.“ Was Herr Spahn hier ausblendet, ist die Tatsache, dass „Freiheit“ (egal ob aktiv oder passiv) und „Pflicht“ Begriffe sind, die sich gegenseitig ausschließen.

Aber vielleicht ist ihm dieser Widerspruch doch bewusst, denn in beiden Zeitungsbeiträgen gibt er zu, dass „der Staat hier in die Freiheit des Einzelnen ein[greift]“. Etwaige hierdurch entstehende „Ängste“ der Bürger, die in der schönen neuen Welt der aufgezwungenen Freiheit aufkommen, möchte er ihnen durch „gute Argumente“ und „Aufklärung über die Hirntod-Diagnostik“ nehmen.

Die „Ärzte für das Leben“ halten eine wie auch immer geartete Widerspruchslösung für äußerst bedenklich. Denn die sinkende Bereitschaft zur Organspende ist nicht nur Ergebnis mangelnder Organisation in den Entnahmezentren, sondern auch Ausdruck einer tief sitzenden Skepsis in der Bevölkerung gegenüber der Gleichsetzung des Hirntods mit dem Tod eines Menschen, wie durch die „Göttinger Organspende-Survey“ (vgl.: Schicketanz S, Pfaller L, Hansen SL. Einstellung zur Organspende. Kulturell tief verwurzelt. Deutsches Ärzteblatt 2016, Heft 37, A1586-A1588) klar belegt wurde.

Göttinger Organspende-Survey

Im sogenannten Organspendeskandal in den Jahren 2010 und 2011 wurden in den vier Transplantationszentren Göttingen, Leipzig, München rechts der Isar und Münster schwerwiegende Verstöße unterschiedlicher Ausprägung festgestellt. In Göttingen ergab sich dabei der Verdacht auf systematische oder bewusste Falschangaben zur Bevorzugung bestimmter Patienten. In den Folgejahren kam es zu einem spürbaren Rückgang der Spendebereitschaft in Deutschland, die als Reaktion auf den vorausgegangenen Skandal gewertet wurde.

Um diese Annahme zu überprüfen, und um mögliche Ursachen für eine Skepsis gegenüber der Organspende zu untersuchen, hat die Gruppe um Professor Silke Schicketanz vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin in Göttingen in den Jahren 2014 und 2015 eine umfangreiche Befragung von Studenten der Medizin und der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Göttingen sowie von Studenten der Soziologie an der Universität Erlangen durchgeführt. Dies ist eine besonders gebildete Gruppe, die, laut Umfragen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung verglichen mit der Allgemeinbevölkerung, tendenziell positiver gegenüber der Organspende eingestellt ist.

Laut den Autoren der Studie sind zwei Befunde besonders wichtig: Die Bereitschaft zur Organspende ist in den letzten Jahren nicht weniger geworden, sondern sogar eher gestiegen und hat zum Beispiel zu einer Verdoppelung der Zahl der Studenten mit bejahendem Spendeausweis geführt. Darüber hinaus ist eine Nichtbereitschaft zur Organspende vor allem an „tieferliegende[n] kulturelle[n] Vorstellungen von Tod und Körperlichkeit und nicht an Misstrauen gegenüber dem System gebunden“. So äußerten zwanzig Prozent der Skeptiker (Nicht-Spendewilligen und Unentschiedenen, insgesamt rund ein Drittel der Befragten) Zweifel gegenüber hirntoten Patienten als Organspender (verglichen mit immerhin zehn Prozent bei den Spendewilligen, rund zwei Drittel der Befragten).

Interessanterweise zeigten sich bei der Bewertung von Alternativen wie Lebendorganspende, Transplantation eines Tierorgans oder künstliche Organe keine Unterschiede zwischen beiden Gruppen. Die überwiegende Mehrheit beider Gruppen (88 Prozent) lehnten das Konzept „der Körper ist eine Maschine“ ab, aber die Spende-Skeptiker unterstützten stärker die Idee, dass manche Organe die Individualität und Einzigartigkeit einer Person konstituieren und daher nicht transplantiert werden sollten (41 gegenüber 29 Prozent). Es lohnt sich, die Zusammenfassung der Autoren der Studie wörtlich zu zitieren: „Nichtspendebereite Personen scheinen dem menschlichen Körper nicht nur als materielle, physikalische Bedingung zu sehen, sondern als wichtige Entität, die Identität und Persönlichkeitseigenschaften formt. Folglich ist die Organspende für sie mehr als eine bloße medizinische Prozedur oder eine Frage von altruistischem Verhalten und der Hirntod ein zweifelhaftes Konzept.“

Weiter schlussfolgern diese Autoren, dass „Verweise auf sachgerechte Abläufe“, wie etwa die von Spahn vorgeschlagene Aufklärung über die Hirntod-Diagnostik, die Spendebereitschaft bei Skeptikern kaum beeinflussen werden, da sie „an grundlegenden Haltungen wenig verändern.“ Die Spendebereitschaft sei nach 2012 deutlich gestiegen und das ohne rechtlichen Zwang zur Positionierung, die „aus ethisch-rechtlicher Perspektive doch Grundrechte auf körperliche und informationelle Selbstbestimmung unterminier[en]“ würden. Ob die Spendebereitschaft aber angesichts der fortgesetzten Unredlichkeit in der Transplantationsmedizin weiterhin hoch bleibt, ist abzuwarten. So wurde erst in den letzten Tagen ein neuer Skandal an der Universitätsklinik in Essen bekannt, wo der Direktor der Klinik für Transplantationschirurgie am 4. September wegen des Verdachts, nicht notwendige Lebertransplantationen vorgenommen zu haben, verhaftet wurde.

Zunehmender Zweifel am Hirntodkonzept

Die eigentliche Geburtsstunde der Transplantationsmedizin war am 3. Dezember 1967, als der Herzchirurg Christiaan Barnard die erste Herztransplantation in Kapstadt durchführte. Nicht zufällig veröffentlichte nur knapp acht Monate später ein Komitee an der Harvard Medical School Kriterien für den Hirntod, die bis heute die Grundlage der Definition dieses Zustands bilden. In den fünfzig Jahren, die seitdem vergangen sind, sind die Bedenken bezüglich der Rechtmäßigkeit dieser Kriterien eher gewachsen, als dass sie mit der Verfeinerung der Diagnostik geringer geworden wären. Dies ist im Übrigen ein starker Gegensatz zu fast allen anderen Bereichen der Medizin, wo die Verbesserung des diagnostischen Instrumentariums mit einer größeren Sicherheit der Diagnosen einhergeht.

So hat der Kinderneurologe und langjährige Vertreter der Hirntodkriterien, Alan D. Shewmon aus Los Angeles, anhand eigener Beobachtungen festgestellt, dass der Hirntod mitnichten mit dem völligen Zusammenbruch der körperlichen Funktionen einhergehen muss. Im Gegenteil, viele Körperfunktionen und Stoffwechselprozesse wie Blutkreislauf, Verdauung und Wachstum können bei Hirntoten über sehr lange Zeit aufrechterhalten werden. Aus diesen Beobachtungen hat Professor Shewmon den Schluss gezogen, dass diese Patienten und in manchen Fällen auch selbst ihr Gehirn, nicht tot, sondern im Sterben begriffen sind. Schlimmer noch: bei einigen Patienten mit Verdacht auf Hirntod scheint sich das Gehirn in einer Art Dämmerzustand zu befinden, in dem die Blutversorgung gerade noch ausreicht, um ein Absterben zu verhindern, aber ein Funktionieren nicht ermöglicht.

Ein wichtiges Kriterium für den Hirntod ist das Ausbleiben der Spontanatmung. Um dieses Kriterium zu untersuchen, wird der Patient vom Beatmungsgerät für eine gewisse Zeit abgenommen um zu schauen, ob er von alleine atmen kann. Gerade aber diese Untersuchung kann bei solchen Patienten dazu führen, dass das Gehirn vom Dämmerzustand in den irreversiblen Tod gekippt wird. Das heißt, der diagnostische Test führt gerade den Zustand herbei, den er diagnostizieren soll.

Diese Zweifel haben prominente Mediziner wie den Direktor des Zentrums für Bioethik an der Harvard Medical School, Robert D. Truog, dazu geführt, die Betrachtung von Hirntoten als Toten als „moralische Fiktion“ zu bezeichnen. Allerdings zieht Truog daraus den Schluss, dass es erlaubt sein müsse, auch bei lebenden Patienten Organe zur Transplantation zu entnehmen und sie dadurch zu töten („gerechtfertigtes Töten“), eine Einstellung, die zwar ehrlicher aber moralisch noch weniger akzeptierbar ist.

Die Empirie spricht gegen ein „Wir schaffen das“

Eine wichtige Grundlage der Argumentation von Gesundheitsminister Spahn ist die Annahme, dass nach Einführung der Widerspruchslösung mit einer signifikanten Erhöhung der Spendeorgane zu rechnen ist. Die empirische Evidenz aus anderen Ländern spricht hier aber eine ganz andere Sprache. So hat die Einführung einer solchen Lösung in Schweden und Singapur die Spenderate nicht verändert. In Brasilien, Bulgarien, Dänemark, Frankreich, Lettland, Luxemburg und Wales ist die Organspenderate nach Etablierung einer Widerspruchslösung sogar gesunken. Selbst in Spanien, das oft als Erfolgsmodell für die Widerspruchslösung präsentiert wird, hat sich die Spenderate nach Einführung sechs Jahre lang nicht verändert. Experten gehen davon aus, dass die erhöhte Spenderate, die danach beobachtet werden konnte, in erster Linie auf eine Verbesserung der Transplantationsinfrastruktur und nicht auf die Widerspruchslösung zurückzuführen ist.

Der Rückgang der Transplantationen und des Organspendeaufkommens in Deutschland ist nicht nur organisatorischen Schwierigkeiten in den Entnahmezentren geschuldet, wie von den Vertretern der Transplantationsmedizin behauptet wird. Vielmehr hegen viele Bürger Zweifel an der Idee, dass der Tod des Gehirns mit dem Tod des Menschen gleichzusetzen ist. Die nicht-enden-wollenden Skandale sind auch nicht geeignet, das Vertrauen der Bevölkerung in die Transplantationsmedizin zu erhöhen. Was in dieser Situation benötigt wird, ist nicht die Erhöhung der Organspenderate mit der Brechstange, sondern eine fundierte und kritische gesellschaftliche Diskussion über das, was der Arzt und Autor Michael de Ridder das „notorisch umstrittene“ Hirntodkonzept nennt.

In der Zukunft könnte auch die Transplantation von genetisch modifizierten Tier-Organen oder Gewebezüchtungen mittels dreidimensionaler Druckertechnologie den Bedarf an menschlichen Organen senken. Jedenfalls ist sehr unwahrscheinlich, dass eine „Augen-zu-und-durch“-Mentalität zum Erfolg führen wird. Im Gegenteil, an anderen sensiblen Stellen in unserer Gesellschaft beobachten wir gerade, zu welchem Unheil ein undifferenziertes „Wir schaffen das!“ führen kann.

Der Autor ist Vorsitzender des Vereins „Ärzte für das Leben“.

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