Rezensionen

Bernward Büchner / Claudia Kaminski / Mechthild Löhr (Hrsg.): Abtreibung – Ein neues Menschenrecht? Sinus-Verlag, Krefeld 2012. 192 Seiten. 14,80 EUR.

Gibt es ein Abtreibungsrecht?

BuchcoverUm die Antwort der zwölf Autoren auf einen Nenner zu bringen und damit die im Titel des Buches an den Leser gerichtete zentrale Frage „Abtreibung – ein neues Menschenrecht?“ in vielfacher Perspektive zu klären, vorab dies: Weder das europäische Recht noch das deutsche Grundgesetz kennen ein formuliertes Recht auf Abtreibung des ungeborenen Kindes.

Bei der Verabschiedung des Grundgesetzes am 8. Mai 1949 schloss der Bedeutungsumfang des „Rechts auf Leben“ (Artikel 2 GG) das „keimende“ Menschenleben ein (R. Beckmann S 32), was von späteren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts mehrfach bestätigt wurde, so 1993 mit den Worten: „Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu, nicht erst dem menschlichen Leben nach der Geburt oder bei ausgebildeter Personalität“. Hinsichtlich juristischer Abtreibungsgesetze verfügen die europäischen Einrichtungen insgesamt über keinerlei Kompetenz für europaweite Regelungen. Es gilt das Subsidiaritätsprinzip, d. h. der Verweis an die jeweilige nationale Rechtsprechung (P. Liese S 119f.). Allerdings wird nach Art. 8 EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) „das Recht auf persönliche Unabhängigkeit und Selbstentfaltung“ i.S. der Garantie eines Privat- und Familienlebens weit ausgelegt (K. Pabel S 15f.). Doch der Europäische Gerichtshof betont, dass ein „Schwangerschaftsabbruch“ nicht nur das Privatleben der Frau betrifft. Insofern überlässt er die fundamentale Entscheidung über eine Abtreibung den jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnungen.

Kann es nach dem derzeitigen Wissensstand der Embryologie und den Wahrnehmungen bei der Ultraschalldiagnostik überhaupt noch Einwände gegen den umfassenden Lebensschutz von der Zeugung an geben? Leider gibt es sie weiterhin, auch wenn sie konstruiert und als mehr oder weniger bewusste Realitätsverweigerung erscheinen, sei es i.S. des Utilitarismus, der Hypothese einer Stufung von Menschsein und Personalität oder durch die fragwürdige Berufung auf die Selbstbestimmung der Frau. In den Feldzügen internationaler Organisationen siegt i.a. feministische Ideologie über einsichtige Vernunft, wie die lesenswerten umfangreichen Recherchen von A. M. Linder aufdecken (S 105ff). Da werden „Statistiken“ von WHO und UNFPA bemüht, um die „reproduktive Gesundheit“ der Frau mittels Verhütung und „sicherer“ Abtreibung zu erreichen. Indes verhinderte die EU im Jahr 2007 einen Entschließungsantrag aus Südkorea und USA gegen die geschlechtsspezifische Abtreibung der Millionen von Mädchen in Indien mit dem Hinweis, dies sei ein „Angriff der USA auf die Abtreibung“! Einsatz für die Frauen? Nein, lieber das Massensterben durch Abtreibung von Mädchen, – ob „reproduktiv geschützt“ oder nicht – als ein Nein zum angestrebten globalen „Abtreibungsrecht“!

Der indische Rechtsanwalt und Sonderberichtserstatter der UNO Anand Grover trat am 3. 8. 2011 für ein solch widersinniges „Abtreibungsrecht“ ein. Das ist Missbrauch der UNO in doppelten Sinn, wie Professor Manfred Spieker kommentiert. In ihrer Charta aus 1945 hatten die 51 Gründungsmitglieder vereinbart, die „Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied…zu fördern und zu festigen“(S 83). Mit der Einführung der Empfängnisverhütung hatte sich die umfassende Wertschätzung des Menschenlebens in einzelnen Staaten indes geändert. Der „Sozialpakt“ aus 1966, der in Artikel 12 Abs 1 das „Recht eines jeden auf das von ihm erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit“ postuliert, wird allerdings zum Einfallstor für immer neue Versuche, das Recht auf Abtreibung im Rahmen der „reproduktiven Gesundheit“ einzufordern (vgl. die UN-Konferenzen in Kairo 1994 und Peking 1995). Unterorganisationen der UNO wie UNFPA, WHO und der CEDAW-Ausschuss sowie die 2010 gegründete UN-Women (Entity for Gender Equality and the Empowerment of Women) und vor allem die IPPF sind weiter aktiv in der Zielsetzung, die „sichere“ legale Abtreibung zu erreichen (S 91ff.). Mit dem afrikanischen Vertragswerk „Maputo-Protokoll“, für 53 afrikanische Staaten in Mosambik seit 2003 ratifiziert, hat ein „Recht auf Abtreibung“ völkerrechtlichen Rang erhalten. Daher gilt es, Dämme zu bauen gegen ein Gewirr von immer neuen Bestrebungen, die Unkultur des Tötens zu verbreiten. Dabei ist die Finanzierung von IPPF durch Großkonzerne zu überwachen und der todbringende Missbrauch von EU-Geldern zu Abtreibungszwecken zu unterbinden (S. Kuby S 129f.)

Widerstand gegen Unrecht ist vorrangig geistiger Art, nicht verschwiegen und zurückhaltend, sondern klar und offen. Wahrheit macht frei. „Wenn die katholische Kirche die unbedingte Achtung vor dem Recht auf Leben jedes unschuldigen Menschen -von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Tod – zu einer der Säulen erklärt, auf die sich jede bürgerliche Gesellschaft stützt, will sie lediglich einen humanen Staat fördern“ (Papst Johannes Paul II. Evangelium vitae, 1995, 101). Dazu sind mutige Ärzte und Pflegekräfte, die sich Tötungsdiensten standfest verweigern, aufgerufen. Denn „nach dem Gesetz ist ‚niemand‘ zur Mitwirkung an einem Schwangerschaftsabbruch verpflichtet“. Richter a. D. B. Büchner stellt diese eminent wichtige Problematik umfassend dar (S 59-82). Eine Begrenzung des Weigerungsrechts ist nach seiner Darstellung nur im Fall der äußerst seltenen strengen medizinischen Indikation, nicht der weit gefassten sozial-medizinischen bei Embryopathie, gegeben. Der Autor hinterfragt die ambivalenten Erklärungen sowohl von Ärztevertretungen zur medizinischen Tötungspraxis wie auch die Diskrepanz in der deutschen Gesetzgebung zwischen der Gesetzwidrigkeit der Abtreibung und der politischen Forderung nach flächendeckenden Angeboten solch straffreier Gesetzwidrigkeit.

Wie für den hippokratisch geprägten Arzt ist es auch für den Bioethiker kaum verständlich, wie das Hochproblematische einer Kindestötung in relativ kurzer Zeit gesellschaftlich zur praktizierten „Normalität“ werden konnte. Abtreibung wird zur Problemlösung. Wie rasch sich Begriffe wie „Unzumutbarkeit“ anlässlich der Feststellung einer kindlichen Behinderung des Ungeborenen (wieder) etabliert haben! Wie der beratende Arzt seine eigentliche Berufspflicht aus Angst vor gerichtlichen Folgen ummünzt und rät, das fraglich behinderte Kind doch lieber abzutreiben (Prof. G. Maio S 159ff.)! Wie rasch der „liberale“ Zeitgeist eine Lücke im Lebensschutz durch Zulassung der Präimplantationdiagnostik, zunächst unter besonderen Sorgfaltsauflagen, zu erweitern sucht: statt diese eugenisch-selektive Maßnahme nur auf äußerst seltene Fälle zu begrenzen, sehe der Verordnungsentwurf des Ministers bereits eine Ausweitung vor (zeit-online v. 12.9.12)! Wie stark wird die Kritikfront bleiben? Tödliche Selektion und Abtreibung sind Unrecht. Der Lebensschutz bleibt ärztlicher und unser aller politischer Auftrag.

Offenheit und umfassende Aufklärung sind Leitplanken der modernen Medizin. Warum werden dann die vielfältigen gesundheitlichen und psychischen Folgen einer Abtreibung (PAS) verschwiegen? Sie sind seit langem bekannt; die Psychologin Maria Simon beschrieb sie 1993, in ihrer Studie gaben 63% der Frauen Depressionen und Flashbacks mit Selbstvorwürfen an (C. Kaminski S 152f.). Bestätigt wird das PAS auch in einer Studie im Auftrag des BM für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Jahr 2007. Die Psychotherapeutin und Ärztin Angelika Pokropp-Hippen widmet sich seit vielen Jahren engagiert den betroffenen Frauen und fordert, die breite Symptomatik nach Abtreibung in das Feld der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD)einzuordnen. Mittlerweile werden für „Sternenkinder“ auf so manchem Friedhof Grabplätze eingerichtet, einmal weil es sich um verstorbene Menschen handelt, zum andern um ihren Müttern und Angehörigen einen Gedenkraum einzurichten. Wäre eine solche Möglichkeit nicht generell auch jenen Müttern zu gewähren, die um ihr durch Abtreibung verlorenes Kind und das ganze Geschehen darum trauern – wie halten wir es da mit der Nächstenliebe? Derart Betroffene äußern sich bis heute im Internet – vermutlich, weil sie sonst kaum einer hört.

Der Widerstand gegen die als „Lösung“ im Schwangerschaftskonflikt gefeierte straffreie Abtreibung und als „Befreiung der Frau“ verklärte Abtreibungsideologie braucht Öffentlichkeit: in einem nicht verharmlosenden, sondern der Wahrhaftigkeit und Pressefreiheit verpflichteten Journalismus, so der Appell von Martin Lohmann, des Bundesvorsitzenden des BVL (S 177f). Nicht dem mainstream folgen, der Unrecht aus Kalkül verschweigt. Gerade beim Lebensschutz ist Entweltlichung angezeigt: alles Verlogene in der Sprache, das Frevelhaft-Mörderische derzeitiger Praxis auf-decken und politische Alternativen aus dem Geist des Grundgesetzes, der Menschenwürdigung und Gerechtigkeit einfordern! Lohmann verweist auf die „Unlogik der Diktatur des Relativismus“, der den Umweltschutz positiv besetzt, den Lebensschutz des Menschen aber in den Bereich des „Fundamentalismus“ zu verbannen sucht. Der „Lebensschützer“ im jährlichen „Marsch für das Leben“ jedoch weiß um sein Fundament: die grundgesetzlich verankerte Unantastbarkeit der Menschenwürde in allen Phasen menschlichen Lebens. Von der Zeugung an entwickelt sich jeder Mensch als Mensch – und dies sein Leben lang. Unser Plädoyer für die Kultur des Lebens steht auf festem Fundament.

Nicht dieser Welt angleichen! „Der Versuch, den ‚christlichen Werten‘ im Kanon der säkularen Gesellschaft Raum zu geben, scheitert meist daran, dass vieles in der Kirche schon soweit säkularisiert ist, dass es profillos und kaum zu unterscheiden ist. Dann hat die Kirche in die säkulare Gesellschaft nichts mehr einzubringen“ (Christoph Kardinal Schönborn, Rede v. 12.9.212 in Berlin, Quelle: kathnet v. 13.9.2012). Das Lebensrecht ist Naturrecht und das Ja zum Leben historisch hart erkämpft. Wir sollen es in das „secular age“ (Charles Taylor) als „Gewinn“ einbringen, vorzeigen, demonstrieren in einem stärkenden: Yes, we can!

So klang es noch 1993 im Urteil des BVG (Leitsatz 10): „Die Verfassung untersagt nicht nur unmittelbare Eingriffe in das ungeborene Leben, sie gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen“. Der Staat habe den Schutzanspruch des Ungeborenen „im allgemeinen Bewusstsein zu erhalten und zu beleben“. Die Finanzierung durch die Krankenkassen wurde als unzulässig erklärt. Als „medizinische Dienstleistung“ deklariert wird der sog. Schwangerschaftsabbruch heute abrechenbar und staatlich subventioniert; der willentliche Abbruch der Reproduktion gilt als Bestandteil „reproduktiver Gesundheit“ in flächendeckenden Angeboten (M. Löhr S 131ff.). Seit Einführung der Pille 1961 und der „befreienden“ Hedonismusbewegung der „68er“ ist die Abtreibung zur häufigsten Todesursache weltweit geworden, nach Angaben der WHO derzeit für 40 Millionen Kinder jährlich, die in über 40% der Fälle von Verheirateten stammen. Leider vermittelt die schulische Aufklärung die Gabe der Sexualität überwiegend als Angebot von Spiel und Spaß unter „effektiver“ Verhütung mittels frühabtreibender Minipille oder einer „Pille danach“ (S 140).

Wiederholt wurde von Bevölkerungswissenschaftlern wie Herwig Birg auf das Problem der Bevölkerungsimplosion aufmerksam gemacht. Heute nimmt man die Tatsache, dass uns die Menschen ausgehen, als „demografischen Wandel“ wahr und verbirgt seine Skepsis hinter Beiträgen zur Rentenproblematik und der Ausweitung von Kitaangeboten. In eine effektiv „erneuerbare“ Familienpolitik investiert kaum eine Institution, verlässlich nicht einmal solche der Caritas oder Diakonie. Dabei befinden sich Deutschland und Österreich mit 1,3 Geburten pro Frau „bereits am Rande der Todesspirale“ (M. Steyn). Trotz der weiter lautstark protegierten Abtreibungsideologie kommt der Familie und einer sie fördernde Politik die entscheidende Schlüsselrolle zu: Bindungsfähigkeit, Vertrauen, Treue, Verantwortung im Miteinander lassen das „Ja zum Kind“ sagen – generationenübergreifend.
Wäre dies nicht die zukunftsweisende Thematik für die „Woche für das Leben“?

Diese Lektüre: ein Muss!

Dr. Maria Overdick-Gulden

Veröffentlicht in Lebensforum Nr. 104, 4. Quartal 2012

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