Brief der Ärzte für das Leben e.V. vom 24.06.2019 an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages zur Debatte über die Einführung der Widerspruchslösung bei Organspenden.
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Die „Widerspruchsregelung“ ist keine Lösung für die Probleme der Transplantationsmedizin
Sehr geehrte Frau Abgeordnete, sehr geehrter Herr Abgeordneter,
die Transplantationsmedizin in Deutschland steckt in einer Krise. Bei einem tendenziell steigenden Bedarf an Organen bleibt die Zahl der Spenderorgane auf niedrigem Niveau, obwohl die prinzipielle Bereitschaft zur Organspende recht hoch ist und mehr als ein Drittel aller Erwachsenen in Deutschland einen Spenderausweis besitzt. Etwa 10.000 Menschen warten derzeit auf ein Organ, aber im Jahr 2018 gab es in Deutschland nur 955 Organspender nach dem sogenannten Hirntod-Konzept.
Um diese Situation zu verbessern, schlägt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn jetzt eine „Widerspruchsregelung“ vor. Diese beruht auf einer Umkehrung der „Erklärungslast“: Während bisher bei hirntoten Patienten Organe nur dann entnommen werden dürfen, wenn eine Einwilligung des Patienten vorliegt, soll nach dem vorgeschlagenen Gesetz jeder als potentieller Organspender gelten, es sei denn, man hat seinen Widerspruch zur Organspende in ein zentrales Register eintragen lassen oder auf andere Weise schriftlich dokumentiert.
Die Organisation „Ärzte für das Leben“ versteht sehr gut, warum die Organtransplantation als wichtiges Element der Behandlung schwerstkranker Patienten angesehen wird. Eine Verpflanzung des Herzens, der Leber oder der Lunge ist oft lebensrettend. Bei Dialysepatienten führt der Empfang einer Niere meist zu einer ganz erheblichen Verbesserung der Gesundheit und der Lebensqualität.
Dennoch lehnen wir die Widerspruchsregelung entschieden ab.
Im Folgenden möchten wir Ihnen die Gründe für diesen scheinbaren Widerspruch erläutern.
1. Die Krise der Transplantationsmedizin resultiert primär aus Vertrauensverlust und Organisationsversagen, nicht aus einer fehlenden Bereitschaft zur Organspende.
In den letzten Jahren wurden wiederholt Unregelmäßigkeiten bei der Organzuteilung aus verschiedenen Zentren gemeldet. Auch wurden grundsätzliche Bedenken bezüglich des Hirntodkonzepts (die Vorstellung, dass der Hirntod mit dem Tod des ganzen Menschen gleichzusetzen ist) nicht ernst genommen und diskutiert, sondern schlichtweg geleugnet. Beides hat dazu geführt, dass das Vertrauen vieler Bürger in die Transplantationsmedizin deutlich abgenommen hat. Schwierigkeiten bei der Organisation der Organentnahme haben auch die Spenderzahlen reduziert.
2. Die Erfahrung aus anderen Ländern zeigt, dass die Einführung der Widerspruchsregelung nicht automatisch zu einer Erhöhung der Spenderorgane führt.
Eigentlich müsste man erwarten, dass nach einer Einführung der Widerspruchsregelung die Anzahl der Spenderorgane nur steigen kann. Überraschenderweise wird diese Annahme aber von der Wirklichkeit nicht bestätigt. In Schweden und Singapur hat die Widerspruchsregelung die Spenderzahl nicht verändert, während in Brasilien, Bulgarien, Dänemark, Frankreich, Lettland, Luxemburg und Wales die Organspenderate nach Etablierung einer Widerspruchslösung sogar gesunken ist.
Selbst in Spanien, das oft als Erfolgsgeschichte präsentiert wird, hat sich die Spenderate nach Einführung der Widerspruchslösung sechs Jahre lang nicht verändert. Experten gehen davon aus, dass die Zunahme der Spenderate, die danach in Spanien beobachtet wurde, nicht auf die Widerspruchslösung, sondern in erster Linie auf eine Verbesserung der Transplantationsinfrastruktur zurückzuführen war.
3. Bevor man zum radikalen Systemwechsel greift, sollte man die existierenden Strukturen der Transplantationsmedizin verbessern
Erst in Februar dieses Jahres wurde das „Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende“ vom Bundestag als Reaktion auf die offensichtlichen Mängel in diesem Bereich verabschiedet. Wäre es nicht klüger, erst die Auswirkungen dieses Gesetzes abzuwarten, bevor man mit der Widerspruchsregelung einen radikalen Systemwechsel anstrebt?
Der Deutsche Bundestag hat erst vor wenigen Jahren beschlossen: „Niemand kann verpflichtet werden, eine Erklärung zur Organ- und Gewebespende abzugeben“ (§ 2 Abs. 2a TPG). Hier eine Kehrtwende zu vollziehen, entspräche nicht dem „Ultima-ratio-Prinzip“, dem alles staatliche Handeln verpflichtet ist.
4. Die Würde des Menschen und die ethischen Grundsätze ärztlichen Handelns sind auch und insbesondere in den Grenzbereichen menschlichen Lebens zu wahren
Jeder Mensch hat ein Recht auf körperliche Unversehrtheit, das im ärztlichen Prinzip „primum nihil nocere“ („zuerst keinen Schaden anrichten“) seinen Widerhall findet. Dies ist auch der Grund, warum ein ärztlicher Eingriff ohne Einwilligung des Patienten als Körperverletzung gilt. Dieses Recht auf Unversehrtheit gilt auch und gerade bei schwerstkranken und sterbenden Patienten.
Was ist aber bei einem sterbenden Patienten, der als Organspender in Betracht kommt? Es ist eine medizinische Tatsache, dass Organe eines toten Menschen, also einer Leiche, nach Transplantation in einen anderen Menschen keine Funktion aufweisen. Sie sind genauso tot wie der Mensch, dem sie entnommen wurden. Transplantierte Organe funktionieren nur dann, wenn sie „lebendfrisch“ (so der Fachbegriff) entnommen wurden. Aber für lebendige Menschen gilt das Prinzip der Unversehrtheit – man darf ihnen keine Organe entnehmen, erst recht nicht, wenn diese Entnahme zu ihrem sicheren Tod führen würde.
Dieses Dilemma versucht man durch das Hirntodkonzept zu lösen, das etwa acht Monate nach der ersten Herztransplantation Mitte 1968 von einem Komitee an der Harvard Medical School in den USA erfunden wurde. In den fünfzig Jahren, die seitdem vergangen sind, sind die Bedenken bezüglich des Hirntodkriteriums keineswegs ausgeräumt. Auch der Deutsche Ethikrat ist in dieser Frage gespalten, wobei nach unserer Auffassung die Haltung der Mitglieder des Rats, die den Hirntod als Tod des Menschen ablehnen, überzeugender ist.
Das Sterben ist eine ganz sensible Phase des Lebens. Jeder wünscht einen friedlichen Tod, für sich und seine Nächsten, im Idealfall im Kreis der Familie und vertrauter Personen. Bei der Organspende ist dies ausgeschlossen. Der Sterbeort ist in jedem Fall der Operationssaal, nachdem der Sterbende seit etlichen Stunden oder Tagen intensiver Behandlung auf die Organentnahme „vorbereitet“ wurde. Hierzu gehört die Gabe von Medikamenten zur Muskelentspannung und gelegentlich auch Schmerzmittel. Der Patient stirbt isoliert, oft in einer fremden Stadt, nicht im Frieden sondern in einem Gewirr von Schläuchen und Apparaten.
Zum Schluss möchten wir folgendes sagen: Als Ärzte verstehen wir sehr gut die Argumentation für die Organspende. Deren Umstände sind aber nicht gleichgültig. Eine echte Zustimmung ist nicht das gleiche wie ein fehlender Widerspruch. Wir als Ärzte, Sie als Politiker, die Gesellschaft als Ganzes muss sich klar werden auf welcher Grundlage Organtransplantationen möglich sein sollen. Die Erfahrung zeigt: Verlorenes Vertrauen gewinnt man durch Umsicht, Verlässlichkeit und Ehrlichkeit zurück, keinesfalls aber durch noch so gut gemeinte Nötigung oder Zwang.
In diesem Sinne bitten wir Sie zu verstehen, warum wir die Widerspruchsregelung ablehnen und appellieren an Sie, diesem Gesetzesvorschlag nicht zuzustimmen. Das bedeutet keine Vernachlässigung der Transplantationsmedizin, da ein alternativer Gesetzentwurf, der einige der oben skizzierten Probleme berücksichtigt, ebenfalls zur Abstimmung vorliegt.
Hochachtungsvoll
Prof. Dr. Paul Cullen
Vorsitzender der „Ärzte für das Leben e.V.“