Die ärztliche Gewissensfreiheit in Gefahr

Prof. Dr. med. Paul Cullen

erschienen in: Magazin Zukunft CH, Ausgabe 5/2024, 22.08.24

Der 2000 Jahre alte Eid des Hippokrates verpflichtet den Arzt dazu, seine „Verordnungen (…) nach bestem Vermögen und Urteil“ zu treffen. Die Gewissensfreiheit gehört somit von jeher zum Kern des Arztberufs.

Heute erleben wir eine rasante Erosion der ärztlichen Gewissensfreiheit. Ärzte, die versuchen, nach ihrem Gewissen zu handeln, sehen sich zunehmend Repressionen und Schwierigkeiten ausgesetzt. Gleiches kann in Zukunft Kliniken und Einrichtungen drohen, die bestimmte Massnahmen aus ethischen Gründen ablehnen wollen.

Einige Beispiele: Bereits im Bewerbungsgespräch hatte Frauenarzt Thomas Börner aus Niedersachsen deutlich gemacht, keine Abtreibungen durchführen zu wollen. Als Politik und Presse dies erfuhren, wurde so viel Druck ausgeübt, dass Börner seine Stelle während der Probezeit aufgab. Auch der Klinikchef, der sich hinter ihn gestellt hatte, wurde entlassen; zu Unrecht, wie ein Arbeitsgericht später feststellte.

Frauenarzt Dr. Michael Kiworr musste wegen seines Engagements für das Lebensrecht mehrfach die Stelle wechseln. Zudem wurde er Opfer der sogenannten Cancel-Culture: 2019 hinderten ihn linke Aktivisten durch massive Störungen daran, an der Universität Göttingen über das Thema „Ein Baby im Bauch – ein Recht auf Leben?“ zu sprechen.

Auch ich geriet deswegen 2021 an der Universität in Münster in schwieriges Fahrwasser. Man warf mir vor, ich verträte „antifeministische und antiemanzipatorische Standpunkte“ und folge „konservativen bis fundamentalistischen Ideologien, die wissenschaftliche Erkenntnisse bewusst falsch interpretieren und gezielt umwerten.“ Mein Wirken diene nicht dem „Schutz allen Lebens“, sondern gehe „auf Kosten des Selbstbestimmungsrechts schwangerer Menschen.“ Letztlich sah die Universität meine Aktivitäten durch die Meinungsfreiheit gedeckt.

Durch strukturelle Massnahmen wird die Gewissensfreiheit von Ärzten in der Lebensrechtsfrage weiter beschränkt. Kliniken wie z.B. 2023 in Bregenz geraten unter politischen Druck, Abtreibungen anzubieten. Auch soll Abtreibung künftig Prüfungsstoff der ärztlichen Prüfung in Deutschland sein. Für Studenten, die Abtreibung ablehnen, bedeutet dies ein faktisches Berufsverbot.

Ohne Gewissensfreiheit ist ein Arzt kein Arzt mehr, sondern ein Medizintechniker, der vorgeschriebene Handlungen am Patienten vornimmt, egal, ob sie mit seinem Gewissen vereinbar sind oder nicht. Deshalb ist es wichtig, unsere Sensibilität für die ärztliche Gewissensfreiheit zu erhöhen und jeden noch so kleinen Schritt zu ihrer Einschränkung zu bekämpfen.

Eine defensive Haltung allein wird aber nicht ausreichen. Wir müssen Gegenkonzepte entwickeln, in denen die Bedeutung und die Würde aller Lebensphasen des Menschen zur Geltung kommen.

Wir brauchen Lebensoasen, die in einer ausgedorrten Welt Orte bieten, in denen die Entfaltung des Sinnes, der jeder Lebenssituation innewohnt, im Mittelpunkt steht. Das können Geburtseinrichtungen und Krankenhäuser sein, aber auch Betreuungs- und pädagogische Einrichtungen, in denen der Wert des Lebens eines jeden Mitglieds der Menschheitsfamilie geschützt, ja gefeiert wird.

Lasst uns also Lebensoasen schaffen, die zur herrschenden Kultur des Todes eine wohltuende Alternative bieten, und in denen die Gewissensfrage gar nicht erst aufkommt.

Prof. Dr. med. Paul Cullen ist Laborleiter an der Universität Münster, Vorsitzender der Ärzte für das Leben und stv. Vorsitzender des Bundesverbands Lebensrecht.