27.03.20: Deutscher Ethikrat veröffentlicht Ad-hoc-Empfehlung „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“
Vor dem Hintergrund der anhaltenden Corona-Pandemie hat der Deutsche Ethikrat am 27.03.2020 eine Ad-hoc-Empfehlung „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“ veröffentlicht.
„Die gegenwärtige Pandemie fordert unsere Gesellschaft in beispielloser Form heraus und führt zu schwerwiegenden ethischen Konflikten. Der Deutsche Ethikrat befürwortet die aktuell zur Eindämmung der Infektionen ergriffenen Maßnahmen, auch wenn sie allen Menschen in diesem Land große Opfer abverlangen. Freiheitsbeschränkungen müssen jedoch kontinuierlich mit Blick auf die vielfältigen sozialen und ökonomischen Folgelasten geprüft und möglichst bald schrittweise gelockert werden“, heißt es in der Pressemitteilung zur Stellungnahme.
Für diesen schwierigen Abwägungsprozess will der Ethikrat mit seiner 8-seitigen Empfehlung ebenso ethische Orientierungshilfe leisten wie für die im Gesundheitssystem drohenden dramatischen Handlungs- und Entscheidungssituationen.
Der ethische Kernkonflikt bestehe darin, dass ein dauerhaft hochwertiges, leistungsfähiges Gesundheitssystem gesichert werden müsse und zugleich schwerwiegende Nebenfolgen für Bevölkerung und Gesellschaft möglichst gering zu halten sind. Das erfordere „eine gerechte Abwägung konkurrierender moralischer Güter, die auch Grundprinzipien von Solidarität und Verantwortung einbezieht“ und sorgfältig prüfe, in welchem Ausmaß und wie lange eine Gesellschaft starke Einschränkungen ihres Alltagslebens verkraften kann.
„In dieser Krise ungekannten Ausmaßes können wir uns glücklich schätzen, so große Solidaritätsressourcen in unserer Gesellschaft zu besitzen. Wir müssen aber ehrlich sein: Auch mit diesen Ressourcen gilt es sorgsam umzugehen und Spannungen zwischen unterschiedlichen Ansprüchen bedürftiger Gruppen fair auszuhandeln“, sagte dazu der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock.
Verschiedenen Konfliktszenarien als normative Probleme
Der Ethikrat möchte Politik und Gesellschaft dafür sensibilisieren, die verschiedenen Konfliktszenarien als normative Probleme zu verstehen. Ihre Lösung sei „eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“. Es widerspräche dem Grundgedanken demokratischer Legitimation, politische Entscheidungen an die Wissenschaft zu delegieren und von ihr eindeutige Handlungsanweisungen für das politische System zu verlangen. „Gerade schmerzhafte Entscheidungen müssen von den Organen getroffen werden, die hierfür durch das Volk mandatiert sind und dementsprechend auch in politischer Verantwortung stehen. Die Corona-Krise ist die Stunde der demokratisch legimitierten Politik“, heißt es weiter.
„Wesentlicher Orientierungspunkt für die nahe Zukunft ist die weitgehende Vermeidung von Triage-Situationen, in denen Ärzte zu entscheiden gezwungen wären, wer vorrangig intensivmedizinische Versorgung erhalten und wer nachrangig behandelt werden soll. Der Staat darf menschliches Leben nicht bewerten und deshalb auch nicht vorschreiben, welches Leben in einer Konfliktsituation zu retten ist. Die Verantwortung, in solchen dilemmatischen Situationen katastrophaler Knappheit medizinischer Ressourcen über Leben und Tod zu entscheiden, sollte aber auch keinesfalls allein den einzelnen Ärztinnen und Ärzten aufgebürdet werden“, so der Ethikrat.
Schon aus Gründen der Gleichbehandlung, aber auch um der allgemeinen Akzeptanz willen bedürfe es vielmehr „weithin einheitlicher Handlungsmaximen für den klinischen Ernstfall nach wohlüberlegten, begründeten und transparenten Kriterien“. Hierzu seien bereits erste Empfehlungen medizinischer Fachgesellschaften erschienen.
Zugleich gelte es, die aktuellen freiheitsbeschränkenden Infektionsschutzmaßnahmen „fortlaufend kritisch zu evaluieren“. Dem Ziel, die Ausbreitung des Coronavirus erheblich zu verlangsamen, müsse zwar auch aus Sicht des Deutschen Ethikrates derzeit die größte Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Dabei sei jedoch auch jetzt schon die mittel- und langfristig bedeutsame Frage in den Blick zu nehmen, unter welchen Voraussetzungen und auf welche Weise eine geordnete Rückkehr zu einem einigermaßen „normalen“ gesellschaftlichen und privaten Leben sowie zu regulären wirtschaftlichen Aktivitäten erfolgen kann, um die ökonomischen, kulturellen, politischen und psychosozialen Schäden möglichst gering zu halten.
Konkrete Handlungsempfehlungen
Konkret empfiehlt der Ethikrat für die nächste Zeit unter anderem folgende Einzelmaßnahmen:
Ein weiteres Aufstocken und Stabilisieren der Kapazitäten des Gesundheitssystems, die Einführung eines flächendeckenden Systems zur Erfassung und optimierten Nutzung von Intensivkapazitäten, den Abbau bürokratischer Hürden und bessere Vernetzung im Gesundheitssystem und mit anderen relevanten Gesellschaftsbereichen sowie einen weiteren Ausbau von Testkapazitäten.
Des weiteren empfiehlt der Ethikrat eine weitere kontinuierliche Datensammlung zu individueller und Gruppenimmunität und zu Verläufen von Covid-19, eine breite Förderung/Unterstützung von Forschung an Impfstoffen und Therapeutika sowie Vorbereitung von Förderstrukturen für deren massenhafte Produktion und Einführung.
Zudem soll die interdisziplinärer Forschung zu sozialen, psychologischen und anderen Effekten der Maßnahmen im Rahmen der Covid-19-Pandemie unterstützt und effektive und erträgliche Schutz- und Isolationsstrategien für Risikogruppen entwickelt werden.
Schließlich brauche es eine fundierte Strategie für die transparente und regelmäßige Kommunikation zu ergriffenen Maßnahmen und zur politischen Entscheidungsfindung im Zusammenhang mit Covid-19 sowie konkrete Berechnungen der zu erwartenden Kosten durch ergriffene Maßnahmen und Alternativszenarien
Der vollständige Wortlaut der Ad-hoc-Empfehlung ist auf der Webseite des Deutschen Ethikrates abrufbar.
Weitere Informationen:
Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise
Ad-Hoc-Empfehlung deutscher Ethikrat vom 27.03.2020
8 Seiten im PDF-Format