Nachfolgend haben wir für Sie rechtliche Informationen zum Thema Schwangerschaftsabbruch bzw. Abtreibung zusammengestellt.
Gesetzliche Regelungen in der EU
Die Menschenrechte in der EU werden durch die Europäische Menschenrechtskonvention EMRK verbindlich gewährt. Deren Auslegung und Anwendung vollzieht sich durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR in Straßburg, insbesondere bei Individualbeschwerden von Einzelpersonen.
Das EU-Recht ist von der Europäischen Menschenrechtskonvention formal getrennt. Die Grundrechtcharta der EU nimmt jedoch in vielen Fragen Bezug auf die EMRK und den EGMR. Es gibt hier also einen engen inhaltlichen Bezug. EMRK und EGMR dienen also als Maßstab für die Fragen der Menschenrechte innerhalb der EU.
Das EGMR äußert sich immer zu einem konkreten Sachverhalt und trifft eine Einzelfallentscheidung. Diese Institution dient nicht zur Normenkontrolle und Durchführung von abstrakten Untersuchungen, im Gegensatz zum Wirken des Bundesverfassungsgerichts. Darum wird bei der Beurteilung der Abtreibung und der Fortpflanzungsmedizin seitens des EGMR die Vereinbarkeit der Gesetzgebung der EU-Mitgliedstaaten im dem Recht auf Leben nach Art. 2 EMRK generell nicht geprüft. Die Einzelfallentscheidungen des EGMR sind als Argumentationsgrundlage und Bewertung bei generellen Fragen trotzdem nützlich.
Gibt es ein Recht auf Abtreibung?
In diesem Zusammenhang wird auf etliche Grundrechte verwiesen. Dazu gehören:
- Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens,
- persönliches Recht auf Unabhängigkeit und Selbstentfaltung,
- Zugehörigkeit zu einem Geschlecht,
- sexuelle Orientierung und das Sexualleben,
- physische und psychische Integrität einer Person.
Ein Recht auf Abtreibung oder ein Recht auf ein Kind kann aus den genannten Grundrechten so nicht direkt abgeleitet werden. Für diese Fragen werden weitere gesetzliche Regelungen formuliert, die sich am Art. 8 der EMRK orientieren.
Laut EGMR ist im Falle einer Schwangerschaft das Leben und das rechtlich geschützte Privatleben der Frau immer mit dem sich entwickelnden Fötus auf das engste verbunden. Das Recht der Frau mit Achtung ihres Privatlebens muss somit stets gegen das betroffene Recht und Freiheit des ungeborenen Kindes abgewogen werden. In den EU-Mitgliedsstaaten gibt es keine einhellige Meinung darüber, zu welchem Zeitpunkt das grundrechtlich geschützte menschliche Leben beginnt. Das EGMR verzichtet darum im Allgemeinen darüber zu entscheiden, ob das in Art. 2 EMRK gewährleistete Recht auf Leben auch das ungeborene Leben schützen soll.
In der Praxis sieht es so aus, dass die EU-Staaten in den eigenen Gesetzen selbst formulieren, ob und in welchem Maße das ungeborene Leben rechtlich geschützt werden soll. Der Art. 8 EMRK dient als Maßstab der nationalen Rechtsprechung. Demnach muss ein Schutzkonzept zugunsten des ungeborenen Kindes, das die Abtreibung nur in bestimmten Fällen unter bestimmten Voraussetzungen zulässt und sonst verbietet, existieren.
Der EGMR kann z.B. prüfen, ob ein nationales Verbot der Abtreibung (aus gesundheitlichen Gründen oder Gründen des Wohlbefindens) das durch Art.8 EMRK geschützte Privatleben der Frau unverhältnismäßig beschränkt- Siehe Urteil A, B und C gegen Irland. Wenn die moralische Überzeugung der Mehrheit eines Landes der Gesetzgebung zum Abtreibungsrecht entspricht, wird diese Vorgehensweise auch seitens des EGMR als legitim interpretiert. Der Beurteilungsspielraum ist ein Konzept zur Steuerung der Kontrolldichte gegenüber den nationalen Maßnahmen, gegen die beim EGMR geklagt wird. Da unter den Mitgliedsstaaten der EU kein Konsens über eine einheitliche Vorgehensweise bei der Abtreibung existiert, ist der Beurteilungsspielraum des EGMR in dieser Frage relativ weit. Die rechtliche Definition über den Beginn des Lebens ist unter den EU-Staaten unterschiedlich. Auch die Staaten selbst haben einen weitern Entscheidungsspielraum bei der Festlegung, unter welchen Voraussetzungen eine Abtreibung als zulässig definiert wird.
Der EGMR interpretiert den Art. 8 EMRK so, dass eine Möglichkeit zur Abtreibung in den Mitgliedsstaaten vorhanden sein muss, wenn auch die Frage des Schutzes ungeborener Kinder über den Beurteilungsspielraum der einzelnen Staaten von ihnen selbst geregelt wird. Ein Absolutes und ausnahmsloses Verbot der Abtreibung wäre mit der aktuellen Konvention wahrscheinlich nicht vereinbar. In diesem Zusammenhang sei auf die wichtige Resolution 1607 der parlamentarischen Versammlung des Europarates über den Zugang zu sicherer und rechtmäßiger Abtreibung in Europa verwiesen. Sie ist für die einzelnen EU Staaten rechtlich nicht verbindlich, zeigt aber den Stand der Meinungen im EU- Rat.
Umgekehrt werden diese Resolutionen des Europarates vom EGMR selbst für die eigene Rechtsprechung häufig hinzugezogen. In der o.g. Resolution wird bemängelt, dass der Zugang zur Abtreibung in vielen Fällen erschwert oder kriminalisiert wird. Der EU-Rat sieht einen Bedarf nach Schaffung von sicheren Abtreibungsmöglichkeiten, begleitet von gesundheitlichen, medizinischen und psychologischen Betreuungsmaßnahmen. Die Resolution sieht eine sichere und legale Abtreibung jedoch nicht als ein Mittel der Geburtenkontrolle oder der Empfängnisverhütung.
Gibt es ein Recht auf Fortpflanzung?
Das Recht zu heiraten und eine Familie zu gründen wird im Art. 12 EMRK erwähnt. Daraus lässt sich jedoch kein Recht auf künstliche Fortpflanzung ableiten. Dafür eignet sich mehr der Art. 8 EMRK, nämlich das Recht Eltern zu werden, z.B. durch Inanspruchnahme der in vitro Fertilisation. Trotzdem sind die Mitgliedsstaaten nicht verpflichtet den Wunsch des Paares nach einem Kind zu erfüllen oder den Zugang zur Fortpflanzungsmedizin oder deren Finanzierung zu sichern. Auch hier gibt es einen Handlungsspielraum. Dieser ist in Bezug auf die künstliche Befruchtung auf nationaler Ebene relativ weit.
Der EGMR sieht auch bei der moralischen und ethischen Bewertung Schwierigkeiten, da die Mitgliedsstaaten in dieser Hinsicht keine gemeinsame Meinung vertreten und der medizinische Fortschritt rasch voranschreitet. Durch diesen Fortschritt ist auch die Rechtsprechung wandlungsfähig. Einen Anspruch auf Einräumung des Zugangs zu sämtlichen Formen der Fortpflanzungsmedizin kann nicht aus der EU-Menschenrechtskonvention abgeleitet werden. Die Entwicklung der Rechtsprechung in dieser Frage kann sich auf nationaler Ebene vollziehen. Der EGMR hält sich also zurück und überlässt die fundamentalen Entscheidungen über die Abtreibung und Fortpflanzungsmedizin den Mitgliedsstaaten.
Selbstbestimmung vs. Lebensrecht Ungeborener
Nach dem Grundgesetz ist der Mensch ein Subjekt der Menschenwürdegarantie. In diesem Zusammenhang wird nicht von Würde der Person, des Individuums, eines Erwachsenen Menschen oder eines geborenen Kindes gesprochen, sondern einfach vom Menschen. Und diesem steht die Würde zu. Das Leben, die körperliche Unversehrtheit, das Eigentum und die persönliche Entfaltungsfreiheit werden durch Strafvorschriften geschützt. Die Normen des Strafrechts werden durch den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes legitimiert. „Jeder hat das Recht auf Leben“, so steht es im Art.2 Abs. 2 des Grundgesetzes. Und dieses Recht wird eben durch verschiedene Vorschriften geschützt.
Frage: wer ist „jeder“ und wer ist „der Mensch“? Für den zweiten Begriff lassen sich einige gängige Erklärungsmodelle zitieren. Die Biologie sieht darin ein Konglomerat von Zellen mit bestimmten Funktionen und Aufgaben. Aus materialistischer Sicht kann von einer besonderen Form der Materie gesprochen werden. Der Genetiker sieht darin zuerst die Gene und ihre Produkte anders als der Physiker, der die Wechselwirkung von physikalischen Elementarteilchen zu einer Summe „Mensch“ subsumiert. Die Naturwissenschaften werden den menschlichen Embryo zuerst in seiner materiellen Erscheinungsform beschreiben. Ist ein Zellhaufen jedoch ein Rechtssubjekt? Nein. Hier kommt es darauf an, dass diese Zellen mit ihrem spezifisch menschlichem Genom eine Form „des Menschen“ darstellen. Die Frage nach den körperlichen oder intellektuellen Fähigkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt ist daher völlig irrelevant. Es handelt sich ja nicht einfach um eine Biomasse, die in ihrer weiteren Entwicklung irgendwann vielleicht besondere und nützliche Eigenschaften hervorbringt.
Der Embryo ist ein Mensch und daher ein Rechtssubjekt. Die äußere Erscheinungsform des Menschen ist im Anfangsstadium der Entwicklung sicherlich nicht das was die meisten seiner Artgenossen unter dem Begriff „Mensch“ rein optisch assoziieren. Ein Klumpen von Zellen, die anderen Zellhaufen anderer Tierarten auf den ersten Blick zunächst sehr ähneln. Aber: Es gibt keinen fest definierten Punkt in der Entwicklung aus dem nichtmenschlichen Gebilde hin zu dem was später den Menschen auch im rechtlichen Sinne definiert. Keine Zäsur, keine besondere Wendung oder sensationeller Beginn einer neuen genetischen und für den Menschen typischen Etappe.
Der Mensch ist daher von Beginn an ohne Unterbrechung und ohne einen späteren Einschnitt ein Mensch. Dieser hat im Gegensatz zu anderen Tieren später eine geistige Ebene mit einer Gefühls- und Gedankenwelt, kann sein Handeln größtenteils autonom steuern und gut von böse unterscheiden. Diese Attribute sind in dieser Qualität und Quantität nur dem Menschen vorbehalten. Durch diese naturwissenschaftlich und empirisch nicht immer leicht quantifizierbaren Eigenschaften, kann dem Menschen eine besondere und schützenswerte „Würde“ zugesprochen werden.
Auch das Bundesverfassungsgericht legt die Sachlage folgendermaßen aus:
„Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu“.
Der Achtungsanspruch der Würde steht ihm vom Anfang bis zum Ende seines Lebens zu.
Die Embryonen sind in existenzieller Hinsicht und nicht ersetzbarer Weise von der Symbiose mit dem mütterlichen Organismus abhängig. Ihr Status als individuell abgrenzbare Lebewesen der Gattung Mensch wird durch diese Tatsache trotzdem nicht verändert oder in seiner Qualität gemindert. Der Charakter und biologische Bestimmung des Embryos werden durch die Prozesse in der Gebärmutter nicht verändert. Mensch bleibt Mensch, unabhängig davon ob die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr über die Gebärmutter oder später die mütterliche Brust sichergestellt wird.
Embryonen sind keine Körperteile des mütterlichen Organismus, über die in freier Selbstbestimmung verfügt werden darf. Die Abtreibung eines ungeborenen Kindes ist keine Art der Selbstbestimmung, sondern eine Form der Fremdbestimmung. Eine echte und verfassungskonforme Selbstbestimmung existiert nur vor der Zeugung des Kindes. Ist das Kind gezeugt, ändert sich die Situation. Die Eltern sind zur Sorge für das Kind verpflichtet und nicht zur Verfügung über das Leben berechtigt. Die Abtreibung und somit die Tötung des ungeborenen Menschen kann also als tödliche Fremdbestimmung definiert werden. Sie ist definitiv kein Ausdruck der Selbstbestimmung.
Ist die Abtreibung verfassungskonform?
Das Menschsein ist die Grundlage für verfassungsrechtliche Schutz-Kriterien. Der Embryo ist ein Mensch. In Bezug auf die Abtreibung führt diese Erkenntnis zwangsläufig zu einem rechtlichen Dilemma. Das „Problem“ lässt sich umgehen, wenn nicht von Menschen, sondern z.B. von „Personen“ im Sinne der verfassungsrechtlichen Schutzgarantie gesprochen wird. Dieser scheinbar unbedeutende Unterschied hat weitreichende Konsequenzen in der Auslegung der Schutzgarantie. Das führt z.B. zu der falschen Annahme, dass die „Zugehörigkeit zur Gattung Mensch“ nicht zwangsläufig dem „menschlichen Wesen“ entsprechen muss.
Die Vertreter dieser Theorie (z.B. Peter Singer) verweisen auf so genannte „Indikatoren des Menschseins“, wie z. B. Rationalität, Selbstbewusstsein, Selbstkontrolle, Sinn für Zukunft und Vergangenheit etc. Wenn sich diese Indikatoren in einem Wesen manifestieren, kann von einer „Person“ gesprochen werden. Nur eine „Person“ soll dieser falschen Annahme nach ein eigenständiges Recht auf Leben haben.
Das Personensein wird nach Auffassung der meisten Menschen nicht erst im Laufe des Lebens erworben. Es ist nicht ein bestimmter Zustand. Auch ein Mensch in Vollnarkose ist eine Person. Die Personqualität des Embryos ist an der spezifisch menschlichen Entwicklung und den künftigen potentiellen Fähigkeiten eines erwachsenen Menschen zu erkennen. Sie kommen durch Wachstumsprozesse zur vollen Entfaltung. Es gibt also keine „potentiellen Personen“. Verschiedene Entwicklungsphasen des Menschen sind keine Bedingungen für die jeweils nachfolgenden Phasen, sondern verschiedene Existenzweisen ein und derselben Person. Wer das prinzipielle Personensein des Menschen von Beginn und Ende seiner leiblichen Existenz abkoppelt und von bestimmten intellektuellen oder körperlichen Entwicklungen abhängig macht, verabschiedet sich von der unveräußerlichen und unantastbaren Menschenwürde.
Das Vorhandensein von besonderen Merkmalen oder Fähigkeiten im Sinne der o.g. Indikatoren kann nicht den vollen grundrechtlichen Status begründen. Sonst können ohne Weiteres auch viele bereits geborene Menschen und Gruppen ausgegrenzt werden. Das Konzept der Person ist in dieser Frage daher abzulehnen, da es die Diskriminierung von Menschen fördert, weil ihnen bestimmte geistige oder körperliche Fähigkeiten eines „vollwertigen“ Menschen fehlen.
Die Fristen
Relativ weit verbreitet ist die These von wachsender Würde und wachsendem Lebensschutz. In diesem Fall wächst der Schutzanspruch zum vorgeburtlichen Wachstum des Embryos. Diese These lässt sich z. B. aus der strafrechtlichen Regelung zur Abtreibung ableiten. Laut § 218 Abs. 1 S. 2. StGB ist der strafrechtliche Schutz des Lebens in den ersten zwei Entwicklungswochen gar nicht, bis zur 12 Woche sehr eingeschränkt (Einschränkung durch Beratungsregelung) und danach bis zur Geburt noch mehr ausgeprägt (Straflosigkeit bei medizinischer Indikation). Erst nach der Geburt kommt der strafrechtliche Schutz vollends zur Geltung.
Diese Regelung ist für viele Juristen, Mediziner, Politiker und andere Expertengruppen seit Jahren common sense und wird nicht selten als guter Kompromiss zwischen dem verfassungsverankerten Lebensrecht Ungeborener und dem Selbstbestimmungsrecht der Frauen gesehen. Für diese rechtlichen Auslegungen gibt es biologisch jedoch keine guten und belastbaren Gründe. Die Straflosigkeit von Handlungen, die in den ersten Tagen zur Abtreibung führen (also die Nidation der befruchteten Eizelle verhindern) wurde aus rein pragmatischen Gründen zugunsten der „Pille“ eingeführt. Die 12 Wochen-Frist wurde wegen des so genannten „qualitativen Sprunges“ in der Entwicklung des Embryos festgelegt. In Wirklichkeit gibt es eine solche embryonale Wachstumsstufe oder eine Zäsur in der Entwicklung nicht. Auch innerhalb einer 22 Wochen-Frist ist die Frau, die die Abtreibung ohne rechtlich festgelegten Bedingungen durchführen lässt, nicht strafbar, der Arzt dagegen schon. In Bezug auf das Leben des ungeborenen Menschen spielt das keine Rolle. Er wird getötet.
Die Theorie des wachsenden Lebensrechts ist auch aus anderen Gründen nicht glaubwürdig. Die Schutzbestimmungen des relativ strengen Embryonenschutzgesetzes werden unberücksichtigt. Wie lässt sich das erklären, wenn nach Art. 1 und 2 Grundgesetz keine bestimmten Wachstumsstufen oder Entwicklungsstufen zur Erlangung der Würde erreicht werden müssen? Denkt man dieses „Stufenmodell“ weiter, kommt man unweigerlich zur Schlussfolgerung, dass es sich auch auf die bereits geborenen Menschen anwenden ließe. Am Lebensende führen etliche Degenerationsprozesse zum Abbau verschiedener Fähigkeiten und Funktionen. Demnach müsste der Grundrechtsschutz des Lebens ebenfalls abnehmen.
Das Beratungskonzept
Das aktuelle Beratungskonzept wurde 1993 vom Bundesverfassungsgericht akzeptiert. Seit Oktober 1995 stellt es die rechtliche Grundlage zur Durchführung der meisten Abtreibungen dar. Hinter dem Konzept verbirgt sich die Überzeugung, dass die Beratung immer noch besser ist als Strafe. Dieser lockeren Haltung liegt die Annahme und Hoffnung zugrunde, dass eigentlich niemand die Abtreibung will, sie aber unter bestimmten Umständen hinnehmbar und akzeptierbar sei. Die juristische Folgenlosigkeit der Tötung ungeborener Menschen führt zur Preisgabe des Lebensrechts. Die Frauen werden in der Beratung nicht unbedingt und zielgerichtet zuallererst zum Austragen des Kindes motiviert. Nach unserer Auffassung wird mit diesem Konzept das Recht auf Leben des ungeborenen Kindes signifikant und folgenschwer aufgeweicht. Das Konzept wäre in anderen Rechtsbereichen völlig abwegig. In der Praxis und in der öffentlichen Wahrnehmung zählt die wohlformulierte juristische Differenzierung (Abtreibung ist rechtswidrig aber straffrei) nämlich gar nichts. Es gilt: was nicht strafbar ist, ist „erlaubt“. Darum ist das Konzept zur Gewährleistung es individuellen Lebensrechts ungeeignet.
Mit der bloßen Behauptung, insgesamt effektiver zu sein, als eine Regelung, die Abtreibungen auch mit dem Mittel des Strafrechts verhindern will, wird im Rahmen des Beratungskonzepts das Lebensrecht des einzelnen ungeborenen Kindes entwertet. Die Zusicherung straffrei abtreiben zu dürfen, soll dazu führen, dass insgesamt weniger Abtreibungen durchgeführt werden. Das einzelne Leben wird zugunsten der vermeintlichen Effizienz der Beratungsregelung der Zerstörung preisgegeben. Der Bundesgerichtshof lehnte diese Vorgehensweise in den 50 er Jahren ab. Der Grundrechtsschutz des einzelnen darf nicht zugunsten der Gesamtrechnung geopfert werden. Daher ist das Beratungskonzept nichts anderes als eine befristete Freigabe zur Tötung von Kindern. Der Beratungsschein ist in 97% der Fälle bis zur 12 Woche die einzige rechtliche Hürde.
Selbst wenn die Abtreibung nach juristischen Kriterien ein Unrecht bleibt, in der Praxis hat diese Auffassung keine negativen Auswirkungen. Sie wird auch nicht als Unrecht behandelt. Ganz im Gegenteil. In der Praxis wird sie wie ein Recht behandelt. Somit wird das Recht auf Leben in unserem Rechtsstaat ad absurdum geführt.
Beispiele: Die Abtreibung ist nicht nur straflos, sie wird sozialstaatlich gefördert. Die Nothilfe zugunsten des ungeborenen Kindes soll ausgeschlossen sein. Der auf Tötung des ungeborenen Kindes gerichtete Arztvertrag soll rechtswirksam sein. Die gesetzlichen Krankenkassen bezahlen bei Abtreibungen generell die Voruntersuchungen und komplikationsbedingte Nachbehandlungen. Bei Bedürftigkeit werden die Kosten der Abtreibung vollständig übernommen, wobei die Abwicklung über die Krankenkassen erfolgt. Die Arbeitgeber sind zur Lohnfortzahlung verpflichtet. Die Länder haben ein ausreichendes Angebot an Abtreibungseinrichtungen sicherzustellen.
Die angeblich rechtswidrige Tötung ungeborener Kinder wird sogar im Rahmen der ärztlichen Berufsfreiheit angesiedelt, so dass der Staat die ärztliche Tätigkeit mengenmäßig nicht beschränken darf. Die Beratung selbst ist ergebnisoffen und ohne Pflicht zur Darlegung der Gründe zu führen. Die inhaltliche Ausrichtung der Beratung richtet sich nach § 219 StGB und nach dem „Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten“ (Schwangerschaftskonfliktgesetz SchKG). Die grundsätzlich positiven Formulierungen des § StGB werden durch das SchKG wiederum relativiert.
Die einzigen für die inhaltliche Ausrichtung der Beratungstätigkeit maßgeblichen Sätze in § 5 SchKG lauten:
„Die nach § 219 des StGB notwendige Beratung ist ergebnisoffen zu führen. Sie geht von der Verantwortung der Frau aus. Die Beratung soll ermutigen und Verständnis wecken, nicht belehren oder bevormunden“.
Es gibt also kein klares Beratungsziel. Der Gesetzgeber gesteht der Schwangeren die Entscheidungsfreiheit über das Leben oder den Tod des Kindes. Sie soll im Sinne des Schwangerschaftskonfliktgesetzes seitens der Berater Informationen erhalten, deren sie für eine Entscheidung über die Fortsetzung oder den Abbruch der Schwangerschaft bedarf. Die Gründe für die Entscheidung der Frau spielen dabei keine Rolle. Sie muss am Gespräch auch kein besonderes Interesse zeigen. Gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 1 SchKG wird lediglich erwartet, dass die schwangere Frau „die Gründe mitteilt derentwegen sie einen Abbruch der Schwangerschaft erwägt“. Auch wenn sie es nicht tut, muss eine Beratungsbescheinigung ausgestellt werden. Es gilt nur die Anwesenheitspflicht bei der Beratung.
Die Ausführungsbedingungen und Inhalte derer sind auch nicht vorgeschrieben. Wichtige Informationen können somit leicht verschleiert werden: Bilder von der Entwicklung des Embryos, realistische Bilder der Abtreibung etc. Die Berater selbst entscheiden wie sie beraten. Sie unterliegen der gesetzlichen Schweigepflicht.
Die Folgen:
Die Beratungsregelung in der aktuellen Form ermöglicht die Tötung Wehrloser in großem Stil. Ein Unrechtsbewusstsein in der Gesellschaft und in der Politik scheint nicht mehr vorhanden zu sein. Es ist absurd eine Regelung, bei der die Nothilfe zugunsten der ungeborenen Kinder ausgeschlossen und der Arztvertrag trotzdem für rechtmäßig erklärt wird, der Staat flächendeckend Abtreibungseinrichtungen bereitstellt, als rechtswidrig zu bezeichnen. Wer ist der Adressat dieses rechtlichen Widerspruchs? Die Schwangere, der Arzt, das Kind, die Krankenkassen oder die Gesellschaft? Welche konkreten Folgen hat diese Regelung zum Schutz der Kinder? Keine. Selbst die Richter des Bundesverfassungsgerichts konstatieren, dass das Rechtsbewusstsein in der Gesellschaft durch widersprüchliche Bewertungen an anderen Stellen verunsichert wird.
Die Verpflichtung des Staates „den rechtlichen Schutzanspruch des ungeborenen Lebens im allgemeinen Bewusstsein zu erhalten und zu beleben“ wird durch die Beratungsregelung gerade zu ad absurdum geführt. Die Bestimmungen befreien die verfassungswidrigen Tötungen nicht nur von Strafe, sondern unterstützen diese in einem flächendeckenden Netz von Abtreibungseinrichtungen. Bei diesem Unrecht wird das Rechtsbewusstsein der Ärzte quasi korrumpiert. Ein nennenswerter lebensschützender Effekt stellt sich bei der Beratungsregelung nicht ein. Einerseits ist der menschliche Embryo im Sinne der Verfassungsnormen ein „Mensch“ mit Anspruch auf die Achtung seiner Menschenwürde und des Rechts auf Leben. Andererseits ermöglichen etliche rechtliche Bestimmungen die Tötung ungeborener Kinder ohne nennenswerte Hürden.
Das Verfassungsgericht hat das Menschsein des Embryos ab der Nidation anerkannt:
„Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu… In der Zeit der Schwangerschaft handelt es sich bei dem Ungeborenen um individuelles, in seiner genetischen Identität und damit in seiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit bereits festgelegtes, nicht mehr teilbares Leben, das im Prozess des Wachsens und Sich- Entfaltens sich nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt… Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu“.
Aus diesem Grund gibt es auch kein Recht auf Abtreibung. Ein Schwangerschaftsabbruch bedeutet immer die Tötung menschlichen Lebens.
Rechtliche Hinweise für Ärzte
„(1) Niemand ist verpflichtet, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken.
(2) Der Absatz gilt nicht, wenn die Mitwirkung notwendig ist, um von der Frau eine anderes nicht abwendbare Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung abzuwenden“
– so steht es im § 12 Schwangerschaftskonfliktgesetz. Das Weigerungsrecht ist also gesetzlich verbrieft.
Der Arzt ist durch sein Berufsethos und Berufsrecht darauf verpflichtet, sich grundsätzlich für die Erhaltung menschlichen Lebens einzusetzen.
Das Bundesverfassungsgericht sieht in der Beteiligung des Arztes im Schwangerschaftskonflikt und seinen Folgen gleichzeitig einen Schutzmechanismus zugunsten des Ungeborenen. Seine Schutzaufgabe wird bei der ärztlichen Beratung und bei der Entscheidung über die Mitwirkung am Schwangerschaftsabbruch wahrgenommen. Halte der Arzt den Abbruch für ärztlich verantwortbar, so müsse er dann mitwirken können, „ohne dass ihm Strafe droht“. Halte er den Abbruch für ärztlich nicht verantwortbar, so sei er aufgrund seiner allgemeinen Berufspflichten gehalten seine Mitwirkung abzulehnen.
Aus juristischer Sicht wird vom Arzt eine Entscheidung darüber verlangt, ob er einen Schwangerschaftsabbruch verantworten kann. Ist das nicht der Fall, hat der Arzt sogar eine Weigerungspflicht, zumal die Abtreibung sowieso rechtswidrig ist. Dabei dürfen keine rechtlichen Nachteile für die sich weigernden und an die Gesetze haltenden Ärzte entstehen. Nach § 134 und § 138 BGB ist ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot oder gute Sitten verstößt nichtig. Rechtliche Konsequenz dieser Vorgaben müsste darin liegen, dass eine vertragliche Verpflichtung zum Töten der ungeborenen Kinder rechtsunwirksam ist. Darum ist das Abtreibungsurteil von 1993 absolut inkonsequent. Aufgrund wirksamer Arzt- und Krankenhausverträge sollen die Ärzte und Krankenhausträger am Töten mitwirken können. Als Ärzte, die sich dem ärztlichen Berufsethos verpflichtet fühlen, lehnen wir diese inkonsequente und absurde Regelung ab!
Gemäß der Rechtsprechung bedeutet der Schwangerschaftsabbruch immer das Töten eines ungeborenen Kindes. Die Abtreibung soll nach juristischer Auffassung durch Ärzte vorgenommen werden. Somit sind sie am Töten der Kinder direkt beteiligt. Nur wenn das Leben der Schwangeren durch die Fortsetzung der Schwangerschaft bedroht ist, sollte der Arzt aus unserer Sicht am Schwangerschaftsabbruch mitwirken können.
Ergänzende rechtliche Informationen zum Schwangerschaftsabbruch:
- Strafgesetzbuch (StGB) § 218 Schwangerschaftsabbruch und folgende a,b,c
- Strafgesetzbuch (StGB) § 219 Beratung der Schwangeren in einer Not- und Konfliktlage und folgende a,b
- Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten (Schwangerschaftskonfliktgesetz – SchKG)
Schwangerschaftskonfliktgesetz vom 27. Juli 1992 (BGBl. I S. 1398), das zuletzt durch Artikel 14 Nummer 1 des Gesetzes vom 20. Oktober 2015 (BGBl. I S. 1722) geändert worden ist
- 23 Jahre nach dem Abtreibungs-Urteil des Bundesverfassungsgerichts – kommt der Gesetzgeber seiner gesetzlichen Pflicht zum Schutz des ungeborenen Lebens nach?
Vortrag von Rainer Beckmann, Lehrbeauftragter für Medizinrecht, Universität Heidelberg; Richter am Amtsgericht Würzburg, 2016