03.06.25 PM: Menschenwürde beginnt am Lebensanfang – Zur Verantwortung der Ärzteschaft im Umgang mit dem ungeborenen Leben

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – dieser Kernsatz des Grundgesetzes genießt breiten gesellschaftlichen und politischen Konsens. Doch was bedeutet er konkret im Kontext vorgeburtlichen Lebens? Wann beginnt der Mensch, Mensch zu sein – biologisch, rechtlich, ethisch? Für Ärzte ist diese Frage auf Grundlage der embryologischen und medizinischen Faktenlage klar zu beantworten: Der ungeborene Mensch ist kein „werdendes Leben“, so, wie es der Ärztetag formuliert. Er entwickelt sich nicht erst zum Menschen, sondern ist von Beginn an Mensch.

Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung des 129. Deutschen Ärztetages, sich mehrheitlich für die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs auszusprechen, von besonderer Tragweite. Der Antrag fordert die Herauslösung der Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetzbuch.

Die explizite Bezugnahme des Ärztetages auf eine Kommission, die von einer nicht mehr im Amt befindlichen Bundesregierung mit dem Ziel eingesetzt wurde, Vorschläge zur vollständigen Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen zu entwickeln, wirft Fragen auf. Denn sie ersetzt die Auseinandersetzung mit grundgesetzlichen Vorgaben und verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung durch politische Zweckorientierung. Das Bundesverfassungsgericht hat sich der medizinischen Erkenntnis angeschlossen und in seinen Urteilen mehrfach klargestellt, dass das ungeborene Leben unter dem Schutz der Verfassung steht und der Staat verpflichtet ist, diesem Schutz durch geeignete gesetzliche Regelungen Geltung zu verschaffen.

Das Selbstbestimmungsrecht der Frau ist ein hohes Gut. Doch es findet seine Grenze dort, wo es in das Lebensrecht eines anderen Menschen eingreift. Dieses Spannungsverhältnis hat der Gesetzgeber mit dem § 218 StGB in Form eines Kompromisses gestaltet, der beide Seiten berücksichtigt: die schwangere Frau und das ungeborene Kind. Die normative Basis dieses Kompromisses ist das Prinzip der Menschenwürde – eine Würde, die dem Menschen nicht aufgrund bestimmter Eigenschaften oder Fähigkeiten zukommt, sondern allein aufgrund seiner Existenz.

Aus medizinischer Sicht ist zu beachten, dass ein Schwangerschaftsabbruch mit einem erhöhten Risiko für psychische Folgeerkrankungen wie Depressionen, Angststörungen, Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie Suizidalität einhergeht. Der oft angeführte Erklärungsansatz der „Stigmatisierung“ bleibt vage. Der Begriff ist wissenschaftlich unpräzise und empirisch kaum operationalisierbar. Auch in Gesellschaften, in denen Abbrüche gesellschaftlich akzeptiert sind – wie etwa in Russland – zeigen sich psychische Belastungen bei Frauen nach Schwangerschaftsabbrüchen in signifikanter Weise. Die fortwährende Behauptung, dass keinerlei Traumatisierung entstehe, ist ein Schlag ins Gesicht der Betroffenen.

Der § 218 ist Ausdruck einer ethisch begründeten Rechtsordnung, die versucht, ein gerechtes Gleichgewicht zwischen zwei fundamentalen Rechtsgütern herzustellen. In einer Situation, in der das ungeborene Kind keinerlei Möglichkeit der Selbstverteidigung besitzt, kommt dem Staat und insbesondere der Ärzteschaft eine besondere Schutzfunktion zu. Der Ruf nach einer vollständigen Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen untergräbt nicht nur den Lebensschutz, sondern stellt auch die Integrität ärztlichen Handelns infrage.

Ärzte haben sich dem Schutz des Lebens verpflichtet – vom Anfang bis zum Ende. Eine Gesellschaft, die ihre verletzlichsten Mitglieder nicht schützt, verliert ihre humanitäre Orientierung. Es ist daher Aufgabe der Ärzteschaft, den Wert menschlichen Lebens – auch vor der Geburt – mit medizinischer Expertise, ethischer Verantwortung und gesellschaftlicher Haltung zu vertreten.

Fürsorge und medizinische Beratung sind Teil der ärztlichen Profession; politischer Aktivismus hingegen nicht.

Priv.-Doz. Dr. med. Dr. sc. hum Kai Witzel, FEBS





Literaturhinweise

1. Bundesverfassungsgericht. BVerfGE 39,1 und 88,203.

2. Fergusson DM, Horwood LJ, Ridder EM. Abortion in young women and subsequent mental health. J Child Psychol Psychiatry. 2006;47(1):16–24.

3. Rue VM, Coleman PK, Rue JJ, Reardon DC. Induced abortion and traumatic stress: A preliminary comparison of American and Russian women. Med Sci Monit. 2004;10(10):SR5–SR16.

4. Dienerowitz FM. Der Diskurs um § 218 StGB seit der deutschen Wiedervereinigung – Geschichtliche, rechtliche und ethische Aspekte des Schwangerschaftsabbruchs [The debate on the German abortion law since the German reunification-historical, legal, and ethical aspects of abortion in Germany]. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 2025 Jan;68(1):69-78. German. doi: 10.1007/s00103-024-03992-5. Epub 2024 Dec 11. PMID: 39661117; PMCID: PMC11732872.

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