06.07.23: Gescheitert: Bundestag gegen alle Gesetzentwürfe zur Neuregelung der Suizidhilfe
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages haben am 6. Juli 2023 in zweiter Lesung alle beiden Gesetzentwürfe von fraktionsübergreifenden Gruppen über eine Neuregelung der Suizidhilfe mehrheitlich abgelehnt. Damit ist eine Neuregelung der Suizidbeihilfe vorläufig vom Tisch und es bleibt wie es ist.
Einen gemeinsamen Antrag beider Gruppen mit dem Titel „Suizidprävention stärken“ (Drucksache 20/7630) nahm das Parlament hingegen mit 689 Ja-Stimmen von 693 abgegeben Stimmen an. Es gab dabei eine Nein-Stimme und vier Enthaltungen.
Beide Gesetzentwürfe klar abgelehnt
Konkret votierten nach anderthalbstündiger Debatte in der zweiten Beratung über den Gesetzentwurf von Dr. Lars Castelluci u.a. bei 690 abgegebenen Stimmen 304 Abgeordnete mit Ja, 363 mit Nein, 23 enthielten sich. Damit war der Gesetzentwurf abgelehnt und eine weitere Beratung entfiel.
Aber auch der zusammengeführte Gesetzentwurf von Kathrin Helling-Plahr (FDP), Renate Künast (Grüne) und Dr. Petra Sitte (Linke) für ein „Gesetz zum Schutz des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben“ fand keine Mehrheit. Bei 682 abgegebenen Stimmen votierten 287 Abgeordnete mit Ja, 375 stimmten mit Nein, 20 enthielten sich. Damit war der liberale Gesetzentwurf klar abgelehnt und eine weitere Beratung entfiel ebenfalls. Auf der Webseite des Bundestages gibt es einen ausführlichen Bericht zur Bundestagsdebatte, das Video zur Sitzung und alle zugehörigen Drucksachen sowie demnächst die Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen.
Im Vorfeld der Debatte hatten zahlreiche Fachgesellschaften wie die Bundesärztekammer und das Nationale Suizidpräventionsprogramm die relativ kruzfristige Abstimmung in der letzten Woche vor der Sommerpause kritisiert, u.a. auch Ärzte für das Leben. Teilweise wurde gefordert, besser keine Regelung zu treffen als eine schlechte.
Am frühen Morgen gab es eine kleine Demonstration des Bundesverband Lebensrecht (BVL) vor dem Eingang des Paul-Löbe-Hauses in Berlin gegen die geplante Neuregelung. Die Teilnehmenden machten damit darauf aufmerksam, dass Selbsttötung keine Problemlösung ist, sondern eine Katastrophe.
Erste Reaktionen zur abgelehnten Neuregelung der Suizidhilfe
In ersten Reaktionen zeigten sich Fachverbände in Pressemitteilungen erfreut über die abgelehnte Neuregelung der Suizidhilfe.
So erklärte der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch: „Es war richtig, dass der Bundestag über die organisierte Suizidbeihilfe abgestimmt und sich gegen beide Entwürfe entschieden hat. So wird Deutschland vor einem ethischen Dilemma bewahrt.“ Die Abgeordneten dürften sich jedoch keine weiteren Jahre bei der Verabschiedung eines wirksamen Suizidpräventionsgesetzes Zeit lassen. „Bisher waren Bundesregierungen nicht in der Lage, das auf den Weg zu bringen. Der Rechtsanspruch auf kurzfristige Sprechstunden, Behandlungsplätze und aufsuchende Therapieangebote muss aber kommen“, forderte Brysch.
Das Nationale Suizidpräventionsprogramm für Deutschland (NaSPro) begrüßte den grundsätzlich großen Rückhalt für die Suizidprävention durch die Abgeordneten des Deutschen Bundestags. Mehr als 99 Prozent der Bundestagsabgeordneten sprachen sich dafür aus, dass Suizidprävention in Deutschland maßgeblich gefördert werden muss. „Damit eröffnet der Bundestag neue Chancen für die Suizidprävention“, bekräftigte Prof. Dr. Reinhard Lindner. „Der Ausbau von bedarfsgerechten individuellen Hilfsangeboten für suizidgefährdete Menschen scheint nun möglich”, führte Prof. Dr. Barbara Schneider aus.
Das NaSPro ist das wissenschaftlich fundierte Expert:innen Netzwerk zur Suizidprävention in Deutschland (www.suizidpraevention.de). Die Empfehlungen dieses Netzwerks beruhen auf einer vom Bundesgesundheitsministerium geförderten Studie zur Suizidprävention in Deutschland. Vor diesem Hintergrund freuen sie sich auf eine weitere intensive Diskussion über die Suizidprävention. Sie verwiesen dabei auf ihre wissenschaftlich basierten Vorschläge, die in einem Eckpunktepapier formuliert und online einsehbar sind.
Kurz zusammengefasst geht es darin um den weiteren Ausbau, die Vernetzung und auskömmliche Finanzierung qualifizierter
regionaler suizidpräventiver Angebote (inkl. Telefon- und Onlineangebote). Des weiteren geht es um die Vernetzung dieser Angebote im Rahmen einer bundesweiten Informations- und Koordinationsstelle mit einer einheitlichen Telefonnummer und Onlineangeboten.
Außerdem geht es darin um die Förderung von suizidpräventiven Angeboten für Risikogruppen, z.B. durch die Förderung spezifischer psychosozialer bzw. psychiatrischer oder psychotherapeutischer Hilfen für suizidale Menschen jeden Alters sowie die Förderung und den weiteren Ausbau von Hilfen im Alter, palliativer und hospizlicher Angebote.
DHPV bedauert vertane Chance
Der Deutsche Hospiz- und PalliativVerband (DHPV) dagegen bedauerte es, dass es nicht gelungen ist, ein Schutzkonzept für Suizidwillige zu implementieren und die herrschende Rechtsunsicherheit zu beenden. Zugleich sieht er mit dem verabschiedeten Antrag auf ein Gesetz zur Stärkung der Suizidprävention eine große Chance, suizidpräventive Konzepte zu stärken und auszubauen.
„In der existenziellen Frage der Durchführung der Suizidhilfe wäre eine größtmögliche Klarheit und Transparenz hinsichtlich des Prozederes und der Absicherung der Selbstbestimmung dringend notwendig gewesen“, so Winfried Hardinghaus, Vorsitzender des DHPV. „Dazu hätte es ein Schutzkonzept gebraucht. Diese Chance ist nun erstmal vertan.“
Beide Vorschläge hätten im Grundsatz laut dem Fachverband zumindest sichergestellt, dass Personen in einer krisenhaften Situation Zugang zu entsprechender Fachexpertise und Beratungsanboten haben, die auch Alternativen zur Suizidhilfe aufzeigen. Nicht zuletzt wäre nach Ansicht des DHPV damit der Gewinnorientierung bei der Suizidhilfe ein Riegel vorgeschoben worden.
Bemerkenswert sei aus Sicht des DHPV die Tiefe und Ausgewogenheit der Debatte gewesen, etwa über die Implikationen der Suizidhilfe für die Gesellschaft, über die Gefahren von gesellschaftlichem und familiärem Druck, über Fragen der Normalisierung der Suizidhilfe vor dem Hintergrund von Einsamkeit, Armut und Krise.
„Vielleicht ist es dieser Ausgewogenheit anzulasten, dass keiner der Anträge zur Regelung der Suizidhilfe genügend Stimmen hinter sich vereinen konnte. Nun müssen wir gesamtgesellschaftlich dafür Sorge tragen, dass Suizid am Lebensende in keinem Fall zu etwas wird, an das sich die Gesellschaft gewöhnt. Suizid darf niemals zu etwas Normalem werden“, so Hardinghaus.
Weitere Informationen:
Bundestag lehnt Gesetzentwürfe zur Reform der Sterbehilfe ab
Mitteilung Deutscher Bundestag, 06.07.23
PM: Geplante Abstimmung über Gesetz zur Neuregelung der Suizidbeihilfe im Hauruckverfahren ist ein Skandal und ein Zeugnis technokratischer Kälte
Pressemitteilung Ärzte für das Leben e.V. vom 04.07.23
Der Suizid darf nicht zur gesellschaftlichen Normalität werden
Gemeinsame Pressemitteilung von BÄK, NaSPro, DGPPN und DGP vom 28.06.23
Eckpunkte für eine gesetzliche Verankerung der Suizidprävention
NaSPro u.a. 01.06.23 (3 Seiten, PDF-Format)